Industrie 4.0

Wie smarte Produkte Unternehmen verändern

27.04.2016 von Eduard Rüsing
Auf Basis der unendlichen Datenströme, die vernetzte Produkte und Maschinen liefern, entstehen auch neue Geschäftsmodelle. Gleichzeitig verändert sich dadurch drastisch die Art und Weise, wie in Entwicklung, Fertigung, Logistik sowie Marketing und Vertrieb gearbeitet wird.
 
  • Mit der Transformation zu intelligenten, vernetzten Strukturen wandeln sich auch alle ‚alten‘ Unternehmensfunktionen
  • Mit der zunehmenden Vernetzung von Produkten und Maschinen müssen die ‚alten‘ Abteilungen auf eine neue Art und Weise zusammenarbeiten
  • Eine neue Lean-Ära wird die Kundenzufriedenheit effizient maximieren

Derzeit entwickeln sich auf Basis intelligenter, vernetzter Produkte (Smart Connected Products) grundlegend neue Wertschöpfungsmöglichkeiten für die Wirtschaft. Speziell im Fertigungssektor, aber auch in allen anderen Sektoren, wie z.B. dem Dienstleistungs- oder dem Informationssektor, findet eine Revolution statt. Die erweiterten Fähigkeiten der neuen vernetzten Produkte werden dabei nicht nur tiefgreifende Auswirkungen auf Marktstrategien und Branchenstrukturen haben.

Wie smarte Produkte Unternehmen verändern
Auf Basis der unendlichen Datenströme, die vernetzte Produkte und Maschinen liefern, entstehen auch neue Geschäftsmodelle. Hier einige Beispiele.
Tesla Motors
Bei vernetzten Produkten wird eine kontinuierliche Weiterentwicklung auch nach Verkauf möglich. Der E-Autohersteller Tesla z.B. will seine Autopilotfunktionen im Laufe der Zeit mit Softwareupdates ausbauen. Die gegenwärtige Software-Version 7.1 fügt die Lenkautomatik und die Parallel-Einparkautomatik hinzu. Im Bild der hochauflösende 17-Zoll-Touchscreen, der als Kommandozentrale für die meisten Fahrzeugfunktionen dient.
Bosch Güterwaggons
Bosch ist eines der deutschen Unternehmen, die beim Thema IoT ‚vorn dabei‘ sind. Eine neue Lösung zur intelligenten, vernetzten Echtzeit-Zustandsüberwachung von Güterwagen geht Mitte 2016 in Serie. Sie bietet Funktionen wie eine exakte Lokalisierung der Waggons, Informationen über die Transportbedingungen der Ladung, das Erkennen von Erschütterungen beim Rangieren und das Aufzeichnen der gefahrenen Kilometer eines Waggons für eine kilometerabhängige und zustandsbasierte Wartung.
CIIT 3D-Montageanleitung
Cyberbrillen sind ‚von gestern‘: Bei den Augmented Reality-Lösungen gibt es eine erste an Holografie erinnernde mobile Projektion, entwickelt vom Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL und IOSB-INA/Fraunhofer, bei der alle (3D-) Informationen, die der Monteur benötigt, einfach auf seinen Arbeitsplatz projiziert werden.
GE Turbine Brilliant Factory
General Electric stattet im Rahmen seiner ‚Brilliant-Factories‘-Initiative die Maschinen mit vernetzten Sensoren aus. Die Rückmeldedaten werden ausgewertet, um Stillstandzeiten zu verringern bzw. die Effizienz zu erhöhen. Einem der Werke sei es damit gelungen, die Produktion fehlerfreier Einheiten zu verdoppeln. Im Bild der Bau von Turbinen in der Brilliant Factory.
John Deere
Vernetzte Produkte lassen sich kostengünstig variieren: Der Landmaschinenhersteller John Deere stellt nur noch eine Standardgröße seiner smarten Motoren her. Die PS-Zahl wird dann je nach Bedarf per Software eingestellt.
Smoove
Mit der IoT-Plattform ThingWorx von PTC erstellte die französische Firma Smoove ein Fahrrad-Verleihsystem für Clermont-Ferrand in der Auvergne. Da die vernetzten Räder bei diesem Dienstleistungsmodell im Besitz von Smoove bleiben, wurde der Konstruktionsprozess angepasst und besonders auf Langlebigkeit und Diebstahlschutz geachtet. Die Räder kommen u.a. ohne eine Kette aus, haben pannensichere Reifen und diebstahlsichere Schrauben.
KTM - Reparatur mit Augmented Reality
PTC hat die IoT-Plattform ThingWorx mit der Augmented-Reality-Plattform Vuforia erweitert. Damit erhält dann ein Techniker, dem über ThingWorx ein Problem vom KTM-Motorrad gemeldet wird, die dazu passenden einzelnen Reparaturschritte visuell auf sein Tablet oder seine Datenbrille.

Auch intern im Fertigungsunternehmen wird praktisch jede der Kernfunktionen, wie z.B. Produktentwicklung, IT, Fertigung, Marketing oder Vertrieb/Service, neu definiert. Zusätzlich werden völlig neue Funktionsbereiche entstehen. Diese Veränderungen bei Produkten und Organisationsstrukturen sind nicht einfach und bergen Unwägbarkeiten. Aber Unternehmen, denen die Umstellung gelingt, werden langfristig stark davon profitieren.

Das sind Thesen von Prof. Michael E. Porter (Harvard Business School) und James E. Heppelmann, Präsident und CEO von PTC, die in einer Grundsatzabhandlung im Harvard Business Manager (Ausgabe 12/15) die organisatorischen Veränderungen und Herausforderungen beschreiben, die die Herstellung und der Vertrieb von intelligenten vernetzten Produkten im Unternehmen selbst verursachen werden. Für viele Unternehmen, die mit dem Übergang zu smarten Produkten zu kämpfen haben, sei der Wandel beunruhigend oder destabilisierend, brächte er doch interne Anpassungen, Wettbewerbsprobleme und Sicherheitsbedenken mit sich.

Die neue Technologie-Infrastruktur: Für intelligente, vernetzte Produkte müssen Unternehmen eine völlig neue Technologieinfrastruktur aufbauen. Dazu gehören neue Produkthardware, eingebettete Software, Netzwerkkomponenten, eine Cloud für die Software, eine Reihe von Sicherheitswerkzeugen, ein Anschluss an externe Datenquellen und die Anbindung an andere Unternehmenssysteme.
Foto: PTC

Die Autoren schildern eine Reihe von technisch-organisatorischen Ansätzen, wie sich die Transformation vom Hersteller konventioneller Produkte zum Anbieter anspruchsvoller Internet-der-Dinge (IoT)-Lösungen in den einzelnen Abteilungen/Funktionen des Fertigungsunternehmens auswirkt bzw. erfolgreich bewältigt werden kann. Im Vordergrund stünde aktuell die Organisationsstruktur, denn die seit Jahrzehnten etablierten Organigramme beginnen aufzubrechen und sich zu verändern.

Die Funktionsbereiche werden auf neue Art und Weise zusammenarbeiten und sich in jedem Fall enger abstimmen müssen, als bisher. Man stehe aber erst am Anfang und deshalb gebe es auch noch keinen Königsweg zur Realisierung der neuen Strukturen. Auf die vielen Beispiele vernetzter Produkte in der Praxis, die im Ursprungstext zu finden, kann hier aus Platzgründen nur ab und an eingegangen werden.

Vernetzte Produkte werden nach Ansicht von Porter und Heppelmann also nicht nur den Wettbewerb auf den Märkten neu sortieren (siehe dazu auch den ersten Artikel der Autoren in HBM-12/14), sondern auch das Wesen, die Arbeit und die Strukturen der Fertigungsunternehmen. Zur Charakterisierung der neuartigen Produktlösungen, die eine bisher nicht gekannte, enge und direkte sowie zeitlich unbegrenzte Beziehung zum Kunden herstellen, definieren sie drei Kernelemente:

Die Cloud wird in vielen vernetzten Produktlösungen ein zentrales Element für die Software/das Produkt-'Betriebssystem' sein, die z.B. ein Big-Data-Datenbanksystem, eine Regel-/Analyse-Engine oder intelligente Produktanwendungen, die die Funktionen des Produktes überwachen, steuern und optimieren, beheimatet.

Neuer Unternehmensbereich zur Speicherung und Bearbeitung der 'Datenseen'

Überhaupt die Daten. Sie fallen bei IoT-Lösungen kontinuierlich und in großen Mengen an. Ihr volles Informationspotenzial auszuschöpfen, wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Deshalb sei für die Kontrolle, Analyse und vor allem auch die Sicherheit der Daten eine wichtige neue Unternehmensfunktion unerlässlich. In solchen 'Datenabteilungen' werden nicht nur wie bisher einzelne Messwerte verarbeitet, sondern Daten unterschiedlichster Herkunft lassen sich kombinieren/korrelieren oder aus großen Mengen, die über Zeiträume gesammelt werden, mit geeigneten Algorithmen bestimmte Erkenntnisse aus Datenmustern ermitteln, etc.

Wertschöpfung im Datenstrom: Die Daten aus vernetzten Produkten liefern unterschiedliche Erkenntnisse, die Unternehmen, Kunden und Partnern helfen, die Leistung eines Produkts zu optimieren.
Foto: PTC

Das Problem dabei ist, dass die Daten als ein Sammelsurium verschiedenster Formate vorliegen, wie Sensor- und andere Zustandsdaten, Standortinformationen, Wetterangaben, Vertriebs- oder Garantiehistorien, etc. Sie werden in sogenannten Datenseen (Data Lakes) in ihrem Rohformat gespeichert und mit neuen Analysetools untersucht. Um mit der Fülle an Daten besser umgehen zu können, setzen Unternehmen vermehrt sogenannte digitale Zwillinge ein, eine 3-D-Nachbildung des physischen Produkts (ursprünglich von der Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums, DARPA, entwickelt). Mit dieser Art Avatar werden in der virtuellen Realität der Status, die Veränderungen oder die Betriebsbedingungen des realen Produktes visualisiert. Die Hersteller können von einem solchen 3D-Zwilling auch Know-how für eine bessere Konstruktion, Fertigung oder Betreibung/Wartung ableiten.

Welche Veränderungen der 'alten' Unternehmensfunktionen werden nun von den Daten und Fähigkeiten intelligenter, vernetzter Produkte verursacht? Für Porter und Heppelmann beginnt diese Transformation im Bereich der Produktentwicklung, sie habe sich aber mittlerweile auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgedehnt. Vernetzte Produkte stellen ganz andere Anforderungen an den Design- und Entwicklungsprozess. Sie sind komplexe Systeme mit Software im Gerät selbst und umfangreicher Software in der Cloud. Der bisherige maschinenbaugetriebene Entwicklungsprozess wandelt sich deshalb vermehrt zum interdisziplinären Systems Engineering, bei dem neben Maschinenbauingenieuren mindestens genauso viele Softwareentwickler (und andere Fachleute) beteiligt sind.

Konstruktion und Fertigung werden zu kontinuierlichen 'Evergreen'-Prozessen

Die Autoren formulieren sieben neue Grundprinzipien bei der Entwicklung und Konstruktion vernetzter Produkte:

Auch im Fertigungsbereich wird sich ein tiefgreifender Wandel vollziehen. Zum einen wird in der intelligenten, vernetzten Fabrik der Einsatz von smarten Werkzeugen und Maschinen vorangetrieben werden. Initiativen wie Industrie 4.0 in Deutschland und Europa oder Smart Manufacturing in den USA haben nichts weniger als die voll automatisierte und möglichst sich selbst steuernde Produktion als Ziel. Z.B. versehe General Electric im Rahmen seiner 'Brilliant-Factories'-Strategie Maschinen entweder nachträglich oder bereits beim Produktdesign mit Sensoren. Die Rückmeldedaten werden ausgewertet, um Stillstandzeiten zu verringern bzw. die Effizienz zu erhöhen. Einem der Werke sei es damit gelungen, die Produktion fehlerfreier Einheiten zu verdoppeln.

Neben den vernetzten Maschinen und Tools, die zur Produktion eingesetzt werden, wird natürlich auch das eigene smarte Produkt die Strukturen der Fertigung verändern. Die mechanische Fertigung wird einfacher, da mehr Funktionen am Produkt durch Software erledigt werden können. Und zur Fertigung gehört neu die Erstellung der Software und der Aufbau des cloudbasierten Systems. Durch die Software können Individualisierungen des Produktes immer später im Montageprozess erfolgen. Das kann so weit gehen, dass die Endmontage beim Kunden vorgenommen wird oder auch nach der Auslieferung noch Anpassungen erfolgen können. In dem Sinne wird auch die Fertigung durch die Produktupdates via Software zu einem kontinuierlichen Prozess.

Logistik, Vertrieb und Service verändern ihr Gesicht radikal

Über Konstruktion und Fertigung hinaus profitieren auch alle anderen Bereiche von vernetzten Produkten und werden dort die Abläufe entsprechend angepasst werden müssen. In der Logistik wird es u.a. eine lückenlose Überwachung der gesamten Fahrzeugflotte geben, mit der Möglichkeit Wetter- und Verkehrsbedingungen oder auch technische Werte/Zustände des Fahrzeugs bei einem optimalen Lieferfahrplan zu berücksichtigen.

Die Möglichkeit, fortwährend das Produkt zu kontrollieren, wird im Marketing und Vertrieb die Kundenbeziehung völlig neu definieren: entscheidend ist nicht mehr der Verkauf des Produkts, sondern die Maximierung des Wertes für den Kunden über die gesamte Nutzungsdauer hinweg. Aufgrund der Produktdaten und des andauernden Kontaktes mit dem Kunden, kann der Hersteller mit einem Zusatznutzen bzw. neuen Geschäftsmodellen die Zufriedenheit des Kunden maximieren. Damit wird auch die Marktforschung sich in weiten Teilen neu aufstellen müssen.

Auch im Aftersales/Service wird sich die Effizienz entscheidend verbessern und von einem reaktiven auf einen vorbeugenden und aktiven Kundendienst umorganisiert. Was per Ferndiagnose oder z.B. Installieren eines Softwareupgrades nicht behoben werden kann, wird mit einem einmaligen Besuch des Technikers erledigt, weil er alle Informationen über den Zustand des Produktes immer vorliegen hat und deshalb bereits optimal vorbereitet zum Kunden kommt. Augmented-Reality-Lösungen können ihn dabei unterstützen, indem sie Reparaturbedarf anzeigen oder mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung durch die Reparatur führen.

Nebeneinander alter und neuer Strukturen

Wie wird das neue Fertigungsunternehmen aussehen? Für Porter und Heppelmann werden selbst bei den progressivsten Industrieunternehmen noch auf Jahrzehnte hinaus weniger als die Hälfte der hergestellten Produkte intelligent und vernetzt sein. Das heißt, ein Nebeneinander von alten und neuen Strukturen wird die Organisation zusätzlich erschweren. Smarte Produkte erfordern eine bereichsübergreifende Koordination, von der Produktentwicklung über den Betrieb der Cloud, die neuen Servicestrukturen bis zum Kundenkontakt nach dem Verkauf. Alle Funktionsbereiche müssen sich intensiv abstimmen, mit den herkömmlichen Übergaben an die nächste Abteilung ist es nicht mehr getan. Dabei überschneiden sich die Aufgaben und die ehemals klaren Grenzen zwischen den Funktionen lösen sich auf.

Die neue Organisationsstruktur: Unternehmensfunktionen von Fertigungsbetrieben müssen aufgrund der zunehmenden Vernetzung von Produkten und Maschinen auf eine neue Art und Weise zusammenarbeiten. Dabei verändern sich auch die Organisationsstrukturen der Unternehmen. Eine neue Abteilung für Datenmanagement beginnt sich durchzusetzen, und es entstehen erste Abteilungen, die sich speziell um die kontinuierliche Weiterentwicklung von Produkten oder um den Erfolg der Kunden kümmern.
Foto: PTC

Die Autoren erwähnen vier aus ihrer Sicht wichtige Veränderungsansätze. Der erste ist eine vertiefte Integration zwischen IT- und F&E-Bereich. Beide müssen ihre Funktionen zusammenführen, da momentan nur die IT in der Lage ist, die IT-Hardware und die Software basierten Teile zu entwickeln und zu unterstützen. Dabei zeichnen sich verschiedene Praxismodelle ab: z.B. werden IT-Teams in die F&E-Abteilung integriert oder Unternehmen bilden funktionsübergreifende Produktentwicklungsteams, in denen auch IT-Mitarbeiter vertreten sind.

Vertiefte Integration zwischen allen Funktionen

Um den Anforderungen vernetzter Produkte gerecht zu werden, entwickeln Unternehmen zudem drei neue Funktionsbereiche. Das ist:

Eine absolute Querschnittsfunktion, die für alle Bereiche von der Entwicklung bis zum Kundendienst relevant ist, ist das Thema Sicherheit. Die große Bedeutung, die der Sicherheit der Produktdaten und der beteiligten Unternehmen zukommt, habe sich aber noch nicht in klaren Strukturen manifestiert und entwickele sich erst noch. Klar ist, dass jeder Bereich seinen Teil zur Lösung der Sicherheitsfrage beitragen muss.

Wie kann der Wandel gelingen? Nach Ansicht der Autoren sind Übergangsstrukturen unausweichlich. Viele Unternehmen haben ihre Initiativen für vernetzte Produkte auf Geschäftsbereichsebene angesetzt, entweder mit einem eigenständigen Geschäftsbereich, einem Center of Excellence (Konzernbereich als Cost-Center ohne Ergebnisverantwortung) oder mit einem bereichsübergreifenden Lenkungsausschuss mit den Vordenkern verschiedener Geschäftsbereiche.

Ein Beispiel für eine eigenständige Einheit ist die seit 2008 bestehende Bosch Software Innovations. Sie hilft den produktbasierten Bereichen und den externen Kunden der Bosch-Gruppe, Strukturen für intelligente, vernetzte Produkte aufzubauen. ("Wie smarte Produkte Unternehmen verändern" auf http://de.ptc.com/internet-of-things/harvard-business-review/download-article-2 herunterladen) (mb)