Rohrkrepierer

Die größten Flops der IT-Geschichte

31.12.2009 von Jan-Bernd Meyer
Marketing-Hype und Wortgeklingel - aber nichts dahinter. Wir haben Anwender gefragt, welche sogenannte IT-Innovationen aus ihrer Sicht die überflüssigsten waren.
IBMs Betriebssystem OS/2 besaß Multitasking-Features und Virtual-Machine-Techniken. Doch nicht immer sichert entwicklungstechnische Avantgarde einen wirtschaftlichen Erfolg.

Fragt man Jesper Doub nach seinem Lieblingsflop aus der IT-Branche, dann fällt ihm ein Produkt ein, das er so charakterisiert: "Gute Idee, für das es kaum Applikationen gab und das enorme Hardwarevoraussetzungen verlangte." Unklar, so der Geschäftsleiter Bauer Media Group, war auch, ob das Produkt für den Business-Bereich gedacht war oder seinen vermeintlichen Siegeszug doch eher auf Vobis- und Escom-PCs in privaten Haushalten antreten sollte.

Dabei war das Produkt seiner Zeit voraus. Einige Ideen wie Multitasking oder die Unterstützung mehrerer virtueller Maschinen - unter anderem für die Betriebssysteme DOS, Windows oder auch OS400 - durften als avantgardistisch gelten. Doub weiter: "Die technische Stabilität des Systems war bemerkenswert, auch wenn eine einzelne Anwendung den Rechner auf der Benutzeroberfläche lahmlegen konnte."

Problem: kaum native Applikationen

Da zu allem Überfluss auch noch kaum originäre Applikationen für das System zur Verfügung standen, ließ sich die IBM manchmal zu aberwitzigen Angeboten hinreißen: Doub erinnert sich, dass ihm ein Systemhaus seinerzeit allen Ernstes vorschlug, "eine Server-Applikation in einer OS400 Box mit einem Client in einer Windows Box zu betreiben - jeweils auf dem gesuchten Softwaresystem.

Dieses Foto des Originals der Microsoft-Anzeige zu OS/2 aus dem "Wallstreet Journal" vom 6.April 1987 hat uns der Leser Klaus Link zugesandt. Damals läutete die Gates-Company mal wieder eine neue Ära des Computing ein - alles würde anders, besser und schöner in der IT. Sechs Jahre später begrub Microsoft OS/2 zugunsten des eigenen Windows-Systems und ließ Abertausende von Anwender im Regen stehen.
Foto: Klaus Link

Spätestens jetzt ist klar, um welches Betriebssystem es sich handelte, das die IBM gemeinsam mit Microsoft entwickelte und das mit dem Ausstieg der Bill-Gates-Company aus der Kooperation tot war: OS/2 oder "OS-halbe", wie es in Branchenkreisen tituliert wurde, war einer der ganz großen Rohrkrepierer der IT-Welt.

Roland Schopp von der Arachno GmbH hat vorsichtshalber einen großen Bogen um OS/2 gemacht - er zeigte sich allerdings auch bei Microsofts Windows-Vista-Betriebssystem nur verhalten euphorisch und hat es vorsichtshalber, wie viele, gar nicht erst installiert. Auch für Claudius Kempe von der Piening GmbH Services oder für Jens Geyer von der VSX Vogel Software GmbH war OS/2 eine Totgeburt.

Grandios gescheiterte Avantgarde: Nextstep

Nextstep: Avantgarde, aber erfolglos - zunächst.

Kempe und Geyer zählen aber auch Nextstep zu den grandios Gescheiterten der IT-Szene. Das Betriebssystem wurde von der Firma Next ab 1988 entwickelt. Es war bedienerfreundlich - was kaum verwundern konnte, stammte es doch von niemand anderem als Steve Jobs. Der war aus der von ihm selbst gegründeten Firma Apple hinausexpediert worden, als Mitte der 80er Jahre die wirtschaftlichen Erfolge ausblieben und er sich zudem mit dem übrigen Apple-Management und insbesondere mit dem damaligen Apple-CEO John Sculley überwarf.

Auf Basis des Unix-ähnlichen Betriebssystems 4.3 BSD und eines Mach-2.5-Kernels schrieb Next ein, wenn nicht das seinerzeit fortschrittlichste Betriebssystem. Die zugehörige Hardware, der Next-Würfel, war bildschön und - ausgestattet mit Motorola-Prozessoren - auch sehr leistungsfähig. Bis zum Ableben von Next war das Betriebssystem auf zehn Plattformen portiert. Hierzu zählten unter anderem Intel-CPUs, Sun-Sparc- und Hewlett-Packards PA-Risc-Chips.

Apropos Steve Jobs

Überhaupt Jobs: Der viel Gelobte und heute manchem schon zum Mythos Entrückte hatte es verstanden, mit Next und Nextstep eine halbwegs erfolglose Firma zu führen. Allerdings ließ er sich samt seinem Unternehmen 1996 von Apple kaufen, betätigte sich zunächst als Berater innerhalb der Apfel-Firma, bevor er sukzessive wieder die Alleinherrschaft im Unternehmen übernahm. Nextstep überlebte übrigens als Weiterentwicklung im Apple-Betriebssystem Mac OS X - und wurde so gesehen doch noch ein Erfolg.

Nicht von Jobs zu vertreten, weil der 1993 bei der Mac-Company noch als persona non grata geführt wurde, war die Entwicklung des "Newton"-PDA. Ähnlich wie bei heutigen Produkten veranstaltete Apple auch mit diesem einen veritablen Marketing-Hype. Aber, wie Arachno-Mann Schopp befindet, der Newton war seiner Zeit irgendwie voraus.

Doub erklärt sich das Scheitern des Apple-PDA auch so: "Apple hatte damals schon visionäre Vorstellungen von einem digitalen Personal Digital Assistant. Der konnte sich aber wegen des ungünstigen Preis-Leistungs-Verhältnisses nie am Markt durchsetzen und war deshalb bei weitem nicht so verbreitet wie damals Palm oder Psion."

Überhaupt durchliefen die ersten Generationen der PDAs eine steile Lernkurve. "In dieser Ära der nutzlosen, passiven, schwarz-weißen PDAs war jede Datensynchronisations die reine Mühsal. Zudem waren die Akkus ständig leer - natürlich vor allem dann, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte", erinnert sich Andreas Dietrich, Noch-CIO der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Für ihn war zudem das Softwareangebot für die damals verfügbaren Hosentaschenhelfer viel zu dürftig. Dietrich: "Das P und D waren ja ok. Aber das A für Assistant habe ich nie verstanden."

Der Fairness halber sollte man sagen, dass diese Kinderkrankheiten bei heutigen Smartphones, den legitimen Nachfolgern der PDAs, nicht vorkommen. Der Gerätetyp verkauft sich dank iPhone und Konsorten sehr gut.

Diese Meinung vertritt auch Oliver Stöckli von der Bison Schweiz AG. Generell gelte, dass die Frage, ob eine Technik oder Entwicklung ein Hit oder ein Flop würden, einfach vom richtigen Zeitpunkt der Markteinführung abhängig sei. Mit dem nötigen Durchhaltevermögen und vielen Investitionen in die Weiterentwicklung - "und manchmal einem neuen Produktnamen" - ließe sich mancher Rohrkrepierer vermeiden.

Offenbarung des Technikzeitalters: WAP

Im Gefolge der PDAs und zu Beginn der Handy-Erfolgsstory verkauften die Marketiers auch den Begriff WAP wie eine Offenbarung des Technikzeitalters. Das Wireless Application Protocol sollte via eine Sammlung von Protokollen Internet-Inhalte für Mobiltelefone bereitstellen - und das bei lahmer Übertragung.

WAP-Handys wie Nokias 7110 sollten die mobile Revolution auf Telefonen auslösen - aber die ließ auf sich warten.
Foto: Nokia

Stöckli fällt zur WAP-Entwicklung ein: "Alle sprachen davon, viele haben jede Menge Geld in dafür gedachte spezielle Applikationen investiert. Aber: Wer hat WAP-Dienste überhaupt jemals verwendet?"

Auch Doub von der Bauer Media Group erinnert sich noch lebhaft an WAP: "Was es da nicht alles für bahnbrechende Ideen geben sollte - etwa für Location-based Services. Welche tollen Premium-Dienste da auf den Markt kommen würden! Und erst all die vielfältigen Möglichkeiten für Inhalteanbieter, die über die Technik zusätzliche Erlöse würden generieren können." Problem nur: Die Anwender haben die Technik nicht angenommen. Denn das A und O des Erfolgs von WAP, die hohen Bandbreiten für den schnellen Datentransport, gab es schlicht noch nicht.

Allerdings ist es problematisch, WAP als IT-Flop zu bezeichnen. Begründung: WAP wurde gerade deshalb entwickelt, um Internet-ähnliche Inhalte über langsame Mobilfunkverbindungen zu transportieren. So zumindest die Intention 1997. Erst mit WAP 2.0 kamen schnellere Transferarten und HTML-Inhalte zum Zuge.

Zudem dürften die wenigsten wissen, dass etwa mobile Internet-Portale oder Handy-Internet-Zugänge auf WAP 2.0 basieren beziehungsweise lange Zeit basierten. Außerdem muss man auch sagen, dass mit WAP grundlegende Netzkonzepte und Programmier- und Seitenbeschreibungssprachen wie WML (Wireless Markup Language) oder später XHTML im Mobilfunk Einzug hielten.

Beim Kunden war WAP trotzdem sicher ein Flop. Als Technik muss es jedoch als Erfolg bezeichnet werden. Übrigens nutzen viele noch heute WAP, ohne es zu wissen. Hierbei verhält es sich so ähnlich wie mit Unified Communications. Niemand will es, aber Presence, Collaboration, VoIP und Videoconferencing nutzen viele.

Neben solcherlei vorgeblich solitären Produkten, zu denen man auch Lawrence Ellisons Idee des Net-PC stellen könnte oder die Entwicklung von Videotelefonen, kreierte die IT-Branche aber auch Konzepte. Die wurden vollmundig vermarktet als Heilsbringer für eine bessere IT-Welt. Alles wird gut, war das Versprechen, wenn man diese Konzepte verwirkliche. Kleiner Haken an der Geschichte: Oft existierten sie nur als Theorie.

Zauberworte der Industrie

Eines der Zauberworte der Softwareindustrie lautet Wiederverwendbarkeit, damit verbunden auch das Versprechen der Interoperabilität - also der einfachen Kopplung von Software und insularen Anwendungen verschiedener Hersteller. Gerhild Aselmeyer, als Selbständige seit über zwei Jahrzehnten mit Analysen, Konzepten und Anwendungsentwicklungen für IT-Belange befasst, wird von dem Begriff "Wiederverwendbarkeit begleitet, solange ich mich mit IT befasse - seit Mitte der 80er Jahre also. Die Interoperabilität als Versprechen kam etwas später dazu, als sich IT in den Firmen endgültig durchsetzte und die Anwendungslandschaften vielfältiger wurden."

Substanzlose Marketing-Versprechen

Zunächst, so Aselmeyer, habe es Libraries/ Bibliotheken für bestimmte Einsatzbereiche gegeben. Softwarehersteller boten APIs an. Später kamen die Objekte und die komponentenbasierte Entwicklung hinzu. Es folgte EAI (Enterprise Application Integration) mit Messaging und Servern als Datendrehscheibe (Message-Broker). Aselmeyer: "Heute haben wir es mit Web-Services und SOA zu tun."

Jede dieser Techniken und jedes Konzept ständen auch heute noch im Dienste von Wiederverwendbarkeit und Interoperabilität. "Aber die optimale oder eine endgültige Lösung für alle IT-Belange habe ich in diesem Potpourri von Optionen noch nicht gefunden", sagt die freiberufliche IT-Beraterin.

Hanseat Doub ergänzt Aselmeyers Gedanken mit der Bemerkung, aktuelle Themen wie SOA oder - "auch sehr schön" - die Enterprise-SOA-Versprechungen der SAP seien "klassische Beispiele von Neuaufgüssen beziehungsweise substanzlosen Marketing-Versprechen".

Schweine können fliegen

Ganz groß in Mode war in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch das Thema "CASE", Computer Aided Software Engineering". Cornel Brücher von der Valentia GmbH erinnert sich noch gut: "Was war das für ein Hype damals! Endlich ingenieurmäßige Softwareentwicklung, dazu eine aktuelle und hochwertige Dokumentation, ein durchgängiges Design." Programmieren - so das Credo - sei völlig unwichtig. Der Quellcode generierte sich nach dieser Theorie wie von selbst. "Und Schweine können fliegen", ätzt Brücher.

Vor zwei Jahrzehnten habe man ihm prophezeit, Programmierer würden überflüssig, Anwender könnten sich mit den "tollen Tools" die Programme selbst schreiben. "Ich bin nur froh, dass ich das damals nicht geglaubt habe." Übrigens sei man auch heute weit davon entfernt, dieses Tollhaus der Werbesprüche verlassen zu haben. Schmunzelt Brücher: "Dank neuer Tools und Programmiersprachen kann man jetzt auch Software entwickeln, ohne Ahnung von Datenbanken, von SQL und Programmlogik zu haben."

Über wundersame Wandlungen

Derlei Wunder der Technik kommen auch Dietrich von den Schweizerischen Bundesbahnen bekannt vor. Im Zuge der Transformation von Legacy-Systemen "gab es plötzlich prima Tools, die auf Knopfdruck Cobol- in Java-Code umwandeln würden!" Wirklich jeder habe ihm dieses Märchen verkaufen wollen. "Da wäre ich über Nacht alle meine Legacy-Anwendungen losgeworden. Mit einem Schlag, so das Versprechen, hätte ich mir mit diesen Softwarewerkzeugen hochleistungsfähige, Multitier-fähige, moderne und sogar wartbare Software eingehandelt." Die Nagelprobe habe dann allerdings immer nur ein Ergebnis gezeitigt: "Zwischen den Hochglanzprospekten in den Händen eines Vertriebs-Verantwortlichen und der harten Realität eines Software-Entwicklers lagen Welten - manchmal sogar Galaxien!"

Thomas Sporbeck von der Exso Business Solutions GmbH wiederum fragt sich noch heute, wie es das Thema "Unternehmens-Workflow" in die Schlagzeilen bringen konnte. "Im Sinne einer zentralen, applikationsübergreifenden und anwenderbezogenen 'Instanz' gab es da Ende der 90er Jahre viele Ankündigungen und halbfertige Lösungen. Umfassend eingelöst ist das Versprechen meines Erachtens nach bis heute nicht."

Der Klassiker: das papierlose Büro

Der Klassiker unter den gestrauchelten IT-Versprechen: das papierlose Büro.

In der Hitliste der schönsten Flops der IT-Geschichte darf eine Vision nicht fehlen: das papierlose Büro. Doub von der Bauer Media Group findet es zwar fast schon "abgedroschen, aber es ist immer noch eine der größten Enttäuschungen". Schmunzelnd meint er: "Ich bin sicher, die Papierhersteller haben interessante Statistiken über ihre Absatzentwicklung, seit sie von der modernen IT bedroht werden."

Second Life - das wahre Leben

Ein veritabler Flop war für Roland Schopp von der Arachno GmbH die virtuelle Lebenswelt von Second Life. Ein Jahr lang war es hip, sich in der virtuellen Gegenwelt als so genannter Resident eine Social Community aufzubauen. Große Konzerne wie die IBM richteten Business-Center und Treffpunkte für Geschäftskontakte ein.

Doch Schopp, der in Second Life selbst Rundgänge organisierte, ging es ähnlich wie vielen eher kritischen Geistern: Nach kurzer Zeit fragte man sich, welchen Nutzen es bringt, sich in der von Linden Lab kreierten Online-Welt zu tummeln. Schopps Antwort: keinen. So sahen es bald die meisten User. Ganz abgesehen davon litt Second Life unter Instabilitäten des Systems. Hinzu kam ein zunehmend zwielichtiges Milieu, das Second Life auch als Aktionsfeld für halbseidene Engagements nutzte - wie im wahren Leben. Das allerdings kann man nicht so einfach abschalten.

Größter Flop? Der Mensch!

Eine originelle Antwort auf die Frage nach den Flops der IT hatte Karlo Berdon von Berdon Engineering parat: "Verlegen Sie doch Ihre Frage 80 Jahre in die Zukunft." Glaube man Menschen wie dem Wissenschaftler Hans Moravec oder dem Schriftsteller Isaac Asimov, dann haben die Menschen in ferner Zukunft mit der IT nichts mehr zu tun. Roboter würden dem Menschen den Alltag angenehm einrichten! Aus der Zukunft rückblickend betrachtet, werde man dann die Antwort auf die Flops der IT-Geschichte vielleicht auch so geben können: "Der größte Flop in der IT-Geschichte war die Mitwirkung des Menschen." Berdon hofft, dass niemand die Frage stellt, ob es die IT und Roboter ohne Menschen geben könnte: "Ich bin mir bei der Beantwortung nämlich nicht so sicher." (jm)