Es kann jeden treffen

Pflegefall in der Familie – wie geht’s weiter im Beruf?

05.03.2010
Wenn der Arbeitgeber mitspielt, ist das Pflegevorhaben mit dem Job vereinbar, sagt Andreas Wollny.

Familiengehörige pflegen - vor dieser Herausforderung stehen immer mehr Arbeitnehmer irgendwann im Verlauf ihrer beruflichen Biografie. Dann stellt sich ihnen die Frage: Wie kann ich diese Aufgabe mit meinem Beruf vereinbaren? Eine schwierige Frage - denn der Pflegefall tritt oft unverhofft ein, und der Pflegebedarf wandelt sich häufig im Verlauf einer Erkrankung.

Die Nachricht war ein Schock für Monika Hübner. Es ging um ihren Vater. Krebs. Die besiegt geglaubte Krankheit war erneut ausgebrochen. Besonders erschütternd an der Diagnose war die Prognose: Der 67-Jährige wird voraus-sichtlich nur noch sechs Monate leben. Nach den ersten Tränen beschloss Monika Hübner, ihren verwitweten Vater in der verbleibenden Zeit zu betreuen und zu pflegen. "Das war für mich sofort klar", sagt sie.

Doch damit verbunden war für die 43 Jahre alte Informatikerin die Frage: Ist dieses Vorhaben überhaupt mit meinem Job vereinbar? Ja! Denn ihr Arbeitgeber, ein Ticket-automaten-Hersteller, zeigte für ihre Situation "zum Glück sehr viel Verständnis". Er schlug vor, Hübner solle während der Pflegezeit ihre Vollzeitstelle um ein Drittel zu reduzieren. Zudem solle sie ihre bisher eher starren Arbeitszeiten gegen ein Arbeitszeitkonto eintauschen. Der Vorteil für Hübner: Sie kann sich ihre Arbeitszeiten relativ frei einteilen. Erfordert die Krankheit ihres Vaters mehr Präsenz zuhause, geht sie seltener oder kürzer ins Büro. Ist hingegen weniger Betreuung nötig, arbeitet sie mehr, so dass sich die Plus- und Minusstunden letztlich ausgleichen.

Bedarf an (häuslicher) Pflege und Betreuung steigt

Ein solches Agreement erachtet Stefan Becker, Geschäftsführer der berufundfamilie Service GmbH , Frankfurt, einer Initiative der Hertie-Stiftung, als "meist ideal" für Beschäftigte mit pflegebedürftigen Angehörigen - seien dies Eltern, Kinder oder Lebenspartner. "Denn es ermöglicht eine hohe Flexibilität."

Becker registriert, dass immer mehr Unternehmen erkennen: "Wer heute beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur an Kinderbetreuung denkt, der denkt zu kurz." Denn immer mehr Erwerbstätige stünden wie Monika Hübner im Verlauf ihrer beruflichen Biografie irgendwann vor der Frage: Wie kann ich meinem Wunsch oder die Notwendigkeit, betagte oder kranke Angehörige zu betreuen, mit meinem Job vereinbaren? Die Hauptursache hierfür: Die bundesdeutsche Bevölkerung altert und somit altern auch der Belegschaften der Unternehmen. Laut Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg werden im Jahr 2020 rund 37 Prozent der potenziell Erwerbstätigen über 50 Jahre alt sein; heute beträgt ihr Anteil 29 Prozent.

"Arbeitnehmer über 50 müssen in der Regel keine Kleinkinder mehr betreuen", sagt Jürgen Ley, Leiter des Personalservices bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall. "Sie sehen sich aber oft mit einer Aufgabe konfrontiert, die häufig noch belastender ist: der Betreuung oder Pflege von Angehörigen - sei es immer mal wieder stundenweise oder Tag für Tag rund um die Uhr."

Diese Aufgabe zu bewältigen, ist für die Betroffenen oft schwer - auch weil die klassische Großfamilie kaum noch existiert. Die Regel sind Kleinfamilien oder Ein-, Zwei-Personen-Haushalte. "Benötigt ein Angehöriger dann Betreuung oder Pflege, ruht oft die gesamte Last auf wenigen Schultern", erklärt Ley. "Entsprechend schnell schlägt das Gefordert-Sein in ein Überfordert-Sein um."

Pflegezeitgesetz ermöglicht unbezahlte Auszeit

Dass hier Handlungsbedarf besteht, hat auch der Gesetzgeber erkannt. Er verabschiedete im Sommer 2008 das Pflegezeitgesetz. Seitdem stehen jedem Arbeitnehmer bis zu zehn Tage pro Jahr bezahlter Extra-Urlaub für die Pflege von Angehörigen zu, erläutert der Darmstädter Fachanwalt für Arbeitsrecht, Michael Lodzik. In Betrieben mit mindestens 15 Beschäftigten können sich die Mitarbeiter zudem - ähnlich wie bei der Elternzeit - bis zu sechs Monate unbezahlt freistellen lassen.

Die Praxis zeigt aber, konstatiert Lodzik: "Nur wenige Arbeitnehmer machen hiervon Gebrauch - auch weil das Pflegezeitgesetz kaum bekannt ist." Viele Beschäftigte trauten sich zudem nicht, ihrem Arbeitgeber zu sagen: Chef, ich bleibe die nächsten drei, vier Monate zuhause - aus Angst, ihnen könnten daraus berufliche Nachteile erwachsen. Hinzu kommt der Verdienstausfall. Den können sich viele Arbeitnehmer nicht leisten. Stefan Becker, Geschäftsführer der berufundfamilie Service GmbH, hierzu: "Eine längere Auszeit für die Pflege von Familienangehörigen nehmen sich Arbeitnehmer meist nur, wenn sie wissen: Mein Arbeitgeber hat hierfür Verständnis." Das bestätigt Jürgen Ley von Schwäbisch Hall: "Wenn in einem Unternehmen keine allgemeine Akzeptanz für solche Fälle besteht, bleiben die meisten Vereinbarungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf Papiertiger. Deshalb sollten Unternehmen eine entsprechende Kultur in ihrer Organisation fördern."

Pflege- und Betreuungsbedarf schwankt oft

Wie brisant das Thema ist, belegen folgende Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Aktuell werden in Deutschland mehr als 1 Million pflegebedürftige Personen von ihren Angehörigen betreut. Und von diesen Pflegepersonen sind zwei Drittel im erwerbsfähigen Alter. Sie stehen also vor der Alternative: Entweder ich gehe nicht arbeiten oder ich versuche meine Pflegetätigkeit mit meinem Job zu vereinbaren.

Letzteres ist oft schwer. Denn ein Schlaganfall kündigt sich nicht wie die Geburt eines Babys schon Monate im Voraus an. Entsprechendes gilt für Unfälle. Deshalb wirft ein solches Ereignis im Familienkreis oft die gesamte Lebensplanung der Angehörigen um. Hinzu kommt: Neben der Dauer ist oft auch der Verlauf einer Krankheit nicht vorhersehbar - so zum Beispiel bei Multipler Sklerose. Und häufig schwankt der Pflegebedarf. Zum Beispiel, weil die Erkrankung in Schüben verläuft. Oder weil sich Aufenthalte zu Hause mit Aufenthalten im Krankenhaus abwechseln. "Entsprechend flexibel und disponibel müssen die pflegenden Personen sein", betont Ley. Und entsprechend breit gefächert sollten im Idealfall auch, die Unterstützungsmaßnahmen seitens der Unternehmen sein.

"Hier haben Großunternehmen andere Möglichkeiten als Kleinbetriebe", betont Stefan Becker. Kleinunternehmen können zum Beispiel meist schwerer Personalausfälle längerfristig kompensieren - auch weil hieraus oft schnell eine Überlastung der anderen Mitarbeiter resultiert. Anders ist dies bei Großunternehmen. Becker nennt als Beispiel den von berufundfamilie Service auditierten Chemiekonzern BASF. Er bietet seinen Mitarbeitern eine breite Palette von Unterstützungsmaßnahmen - von Kursen zum Thema Krankenpflege bis hin zu einer individuellen Beratung. Bei Bedarf können BASF-Mitarbeiter zudem bis zu zwei Jahre zuhause bleiben. Bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall nahmen Mitarbeiter aufgrund einer entsprechenden betrieblichen Regelung sogar schon eine Auszeit von vier Jahren.

Flexibilität von allen Beteiligten ist gefragt

Für Entlastung sorgt auch eine breite Palette von Teilzeitmodellen. Insgesamt 70 Varianten hiervon gibt es zum Beispiel bei Schwäbisch Hall. "Etwa ein Drittel unserer 3000 Mitarbeiter arbeitet Teilzeit", berichtet Jürgen Ley. Darunter sind auch zahlreiche Beschäftigte, die Angehörige pflegen oder betreuen. Genaue Zahlen hat Ley nicht - auch weil oft unklar ist, wann liegt ein Pflegefall vor oder wann nicht. Ley erläutert dies an einem Beispiel: Die Eltern eines Schwäbisch-Hall-Mitarbeiters wohnen im 40 Kilometer entfernten Heilbronn. Haus und Garten können sie nicht mehr pflegen, bei Großeinkäufen und Arztbesuchen brauchen sie Hilfe. Also muss der Mitarbeiter mehr-mals pro Woche nach Heilbronn fahren. Ein Pflege- oder Betreuungsfall im klassischen Sinne ist das nicht - aber eine hohe zeitliche Belastung.

Gerade weil die Pflege so vielgestaltig ist, sieht Christiane Flüter-Hoffmann vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) das Pflegezeitgesetz eher kritisch. "Es ist für die Unternehmen und deren Mitarbeiter gleichermaßen unbefriedigend", betont die Personalpolitik-Expertin. Für die Beschäftigten, weil es ihnen eigentlich nur die Möglichkeit eröffnet, ganz zuhause zu bleiben. Dies kann sich aber manch Arbeitnehmer finanziell nicht leisten. "Außerdem führen lange unbezahlte Job-Auszeiten oft zu einem Kompetenzverlust und mindern den Wert der Arbeitskraft", betont Flüter-Hoffmann. Und für die Arbeitgeber stellt sich bei längeren Auszeiten oft die Frage: Woher sollen wir in der Übergangszeit eine qualifizierte Ersatzkraft nehmen? Diese Frage ist insbesondere bei den Mitarbeitern brisant, die in den Unternehmen Schlüsselpositionen innehaben. Als Beispiel nennt Christiane Flüter-Hoffmann hoch qualifizierte Spezialisten, "von denen die Firmen oft nur ein, zwei auf der Payroll haben." Ihre Empfehlung: "Partnerschaftlich nach einer für beide Seiten akzeptablen Lösung zu suchen, ist zielführender als auf einen Rechtsanspruch zu pochen."

Arbeit ist auch mentale Entlastung

Pflege und Beruf vereinbaren - für Monika Hübner ist dies Tag für Tag ein "Kampf und Krampf" - obwohl die Pflegebedingungen bei ihr "eigentlich ideal" sind. Ihr Vater wohnt bei ihr im Haus. Täglich schaut ein ambulanter Pflegedienst nach ihm. Ihr Mann greift ihr unterstützend unter die Arme. Trotzdem hat Monika Hübner nie Feierabend. Irgendetwas ist immer noch zu tun. "Oft habe ich das Gefühl: Ich packe das alles nicht mehr", gesteht sie. Trotzdem ist die Informatikerin froh, dass sie parallel zur Pflege Teilzeit arbeitet. "Denn so sehe ich auch mal etwas anderes. Wenn ich nur zuhause wäre, würde ich depressiv. Das wäre auch für meinen Vater nicht gut." Entsprechend dankbar ist sie ihrem Arbeitgeber für sein Verständnis.

Dass sich immer mehr Unternehmen ernsthaft mit dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie häusliche Pflege befassen, hat viele Gründe. Mancher Betrieb möchte sich hierdurch als attraktiver Arbeitgeber profilieren. Laut Becker ist dies aber immer seltener das Hauptmotiv. Vielmehr würden die Firmen zunehmend erkennen: Familienfreundlichkeit lohnt sich - auch betriebswirtschaftlich. Das belegt auch eine Studie des Forschungszentrums Familienbewusste Personalpolitik (FFP) an der Uni Münster. Ihr zufolge sind "familienfreundliche Betriebe" 17 Prozent produktiver als andere - unter anderem, weil sich die Mitarbeiter stärker mit ihrem Arbeitgeber und ihrer Arbeit identifizieren. Das schlägt sich nicht nur in geringeren Fehlzeiten nieder. "Zufriedene Mitarbeiter führen auch zu zufriedenen Kunden", weiß Jürgen Ley. Und Kundenzufriedenheit ist nicht nur im Finanzsektor ein zentraler Erfolgsfaktor.

Firmeneigenes Seniorenstift als Zukunftskonzept

Einmalig in Deutschland dürfte das eigene Seniorenstift sein, über das die Bausparkasse Schwäbisch Hall seit 1999 verfügt - in erster Linie für ehemalige Mitarbeiter, aber auch für Angehörige aktuell Beschäftigter. Angegliedert an den Wohnkomplex mit 52 Wohnungen ist eine Pflegestation. "Dort können Mitarbeiter im Notfall Angehörige in Kurzzeitpflege geben", erklärt Ley. Außerdem berät das Pflegepersonal Schwäbisch Hall-Mitarbeiter, wenn sie in ihrer Familie einen Pflegefall haben. Die Bausparkasse hat zudem mit dem Betreiber des Pflegediensts vereinbart: Angehörige der Schwäbisch Hall-Mitarbeiter kommen auch in den anderen Seniorenheimen des Dienstleisters in der Region bei Bedarf schnell unter.

In solchen Kooperationen zwischen Unternehmen und Pflegeeinrichtungen sieht berufundfamilie Service-Geschäftsführer Becker einen zukunftsweisenden Weg. Bei der Kinderbetreuung sind solche Kontrakte bereits gang und gäbe. Hier ist es gängige Praxis, dass Unternehmen Kinderbetreuungseinrichtungen bezuschussen und diese im Gegenzug für die Kinder von deren Mitarbeitern eine gewisse Zahl von Betreuungsplätzen reservieren - auch für unvorhergesehene Notfälle. Entsprechende Kooperationen sind auch mit Betreibern von Pflegeeinrichtungen möglich, betont Becker.

Für Monika Hübner stand es nie zur Debatte, ihren Vater in ein Pflegeheim zu geben. "Schließlich ist er mein Vater", sagt sie. Anders wäre dies gewesen, "wenn wir berufsbedingt zwei-, dreihundert Kilometer entfernt von ihm gewohnt hätten und in unserem Haus kein Platz für ihn gewesen wäre". Dann hätte auch sie ihren Vater eventuell in einem Pflegeheim unterbringen müssen.

Der Autor Andreas Wollny ist Wirtschaftsredakteur und arbeitet im Büro für Bildung und Kommunikation.

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