Omnichannel und Future Store

Der Handel braucht dringend einen digitalen Masterplan

04.04.2018 von Martin Bayer
Die Grenzen zwischen Online- und Offline-Handel lösen sich zunehmend auf. Für die Händler gilt es, ihre Kunden auf jedem Kanal bestmöglich zu erreichen und zu bedienen. Das heißt aber auch, dass klassische Ladenkonzepte digital überholt werden müssen. Das Technikangebot dafür ist vielfältig, aber auch teuer. Die Retailer müssen genau kalkulieren, welche Investitionen sich lohnen.

Ein Kunde betritt das Geschäft, nimmt sich einen Warenkorb oder einen Einkaufswagen, läuft durch die Gänge und holt sich die gewünschten Produkte und Waren aus den Regalen. So weit nicht ungewöhnlich. Das tun Millionen Kunden tagtäglich in den Supermärkten rund um den Globus. Und doch verläuft der Einkauf in unserem Beispiel ein wenig anders. Der Kunde muss nicht mehr an die Kasse. Er belädt Fahrradkorb oder Kofferraum und fährt nach Hause. Abgerechnet und bezahlt wird automatisch.

Der Handel braucht einen Plan für die Digitalisierung seiner Geschäfte, um gegen den immer stärkeren Online-Kanal bestehen zu können.
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Wer glaubt, diesen Future Store hätte sich eine der großen etablierten Handelsketten wie Aldi, Carrefour, Tesco oder Walmart ausgedacht, liegt falsch. Der kassenlose Supermarkt gehört Amazon. Der weltgrößte Online-Händler, der bereits seit einiger Zeit mit Offline-Läden experimentiert, hat Ende Januar dieses Jahres seinen ersten "Amazon Go" Store im US-amerikanischen Seattle für die Allgemeinheit eröffnet.

Der Anteil des Retail-Umsatzes, der digital beeinflusst wird wächst deutlich schneller als der stationäre Offline-Anteil.
Foto: Forrester

Für das Einkaufserlebnis der Zukunft ist Amazons Go-Store an allen Ecken und Enden mit intelligenter Technik ausgestattet. Kunden authentifizieren sich beim Betreten des Ladens über eine Smartphone-App. Im Store überwachen Kameras und digital vernetzte Waagen in den Regelböden alle Aktivitäten. Nimmt ein Kunde eine Ware aus dem Regal, wird diese seinem Amazon-Konto zugewiesen. Legt er den Artikel wieder zurück, verschwindet dieser wieder aus dem digitalen Warenkorb. Die Systeme registrieren, wenn der Kunde den Laden verlässt. Dann wird automatisch über das Amazon-Konto abgerechnet und bezahlt.

Amazon Go rüttelt Einzelhandel auf

Bereits Ende 2016 hatten die Amazon-Verantwortlichen ihr Laden-Konzept präsentiert. In der Versuchsphase konnten dort nur die eigenen Mitarbeiter einkaufen. Für die Allgemeinheit live gehen sollte der Store eigentlich bereits im März vergangenen Jahres. Doch technische Schwierigkeiten haben den Start verzögert. Beispielsweise soll es Probleme gegeben haben, zusammengehörige Einkäufergruppen sowie Familien und deren Einkäufe auseinanderzuhalten. Auch sei Amazon Go an seine Grenzen gestoßen, wenn sich zu viele Kunden im Markt getummelt hätten, hieß es. Doch mittlerweile scheint man diese Probleme in den Griff bekommen zu haben.

Auch wenn es sich bei Amazon Go momentan um nicht viel mehr als eine Art Prototypen für den Store der Zukunft handelt, hat der Vorstoß des Online-Riesen den weltweiten Einzelhandel aufgerüttelt. Die Verantwortlichen bei Edeka, Lidl, Rewe und Co. sehen sich gezwungen, ihre Strategien und vor allem auch ihre Ladenkonzepte kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

Der Online-Handel macht gegenüber den klassischen Ladengeschäften weiter Boden gut. Bis 2022 soll der Handelsumsatz im Netz in 17 westeuropäischen Ländern um 11,9 Prozent pro Jahr zulegen, haben die Analysten von Forrester Research ermittelt. Damit legt der E-Commerce um den Faktor 10 schneller zu als der stationäre Handel. Eine Umfrage des Bitkom unter 1152 deutschen Internet-Nutzern hat Ende vergangenen Jahres ergeben, dass mittlerweile jeder Dritte den Einkauf im Netz bevorzugt. Lieber ins Ladengeschäft geht gut jeder Fünfte (21 Prozent), keine eindeutige Präferenz äußerten 46 Prozent der Befragten.

Online-Druck steigt weiter

Dazu kommt, dass klassische Handelssegmente, die sich in der Vergangenheit noch vergleichsweise standfest gegen die Online-Konkurrenz behaupten konnten, mittlerweile auch unter Druck geraten. Beispiel Lebensmittelhandel: Zwar gehört der Gang in den Supermarkt nach wie vor zum Alltag vieler Kunden, aber immer mehr Verbraucher wollen ihre Lebensmittel künftig online einkaufen. In den Niederlanden lag das Volumen der im Netz gehandelten Lebensmittel 2017 schon bei rund einer Milliarde Euro. Fünf Prozent der Supermarktverkäufe würden dort bereits online abgewickelt, hat Forrester herausgefunden. Und unser Nachbar an der Nordsee dürfte kein Einzelfall bleiben. Die Analysten gehen insgesamt davon aus, dass bis 2022 rund 4,5 Prozent aller Lebensmittel in Westeuropa via Internet geordert werden. Damit weist diese Sparte mit einem Plus von etwa 15 Prozent jährlich eine der höchsten Wachstumsraten im Online-Handel auf.

Auch die Deutschen stehen dem Online-Kauf von Lebensmitteln immer aufgeschlossener gegenüber: Jeder Dritte (33 Prozent) hat schon Lebensmittel im Internet eingekauft und würde es wieder tun. Beinahe ebenso viele (32 Prozent) haben das zwar noch nicht getan, können sich aber vorstellen, es einmal auszuprobieren. Das hat eine Umfrage von Kantar TNS im Auftrag des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) unter 1050 Bundesbürgern ergeben. Nur ein Viertel hat demnach noch nie Lebensmittel online bestellt und würde es auch nicht ausprobieren. "Dabei ist der Lebensmitteleinkauf nicht selten eine Art Ritual und folgt einem festen Ablauf", sagte BVDW-Vizepräsident Achim Himmelreich. "Offenbar wiegen die Vorteile des Online-Kaufs schwer, wenn wir uns trotz fester Gewohnheiten derart offen gegenüber dieser Alternative zeigen."

Mehr digitale Services gefordert

Die Kunden erwarten heute mehr und mehr digitale Services rund um das Shopping. Das hat eine Bitkom-Umfrage (PDF-Link) gezeigt. Verbraucher wollen online wie auch offline einkaufen und dabei die Vorzüge des Einkaufens im Geschäft mit den Bequemlichkeiten des Online-Handels verbinden. Ganz oben auf der Wunschliste steht die Lieferung von im Laden gekaufter Ware direkt nach Hause (46 Prozent), gefolgt von WLAN im Geschäft (43 Prozent) und Echtzeitinformationen über die Verfügbarkeit von Produkten im Laden (35 Prozent). "Weil die Kunden das Beste aus beiden Welten wollen, fordern sie auch im Laden digitale Services", sagt Bitkom-Handelsexpertin Julia Miosga. "Stationäre Händler müssen für Internetnutzer spezielle Angebote bereithalten, um sie als Kunden zu gewinnen beziehungsweise auch in Zukunft zu halten. Dafür ist ein Omnichannel-Ansatz sinnvoll, also ein cleveres Zusammenspiel von stationärem Handel, digitalen Services und Online-Shop." Die enge Verzahnung von Offline- und Online-Kanälen sei deshalb ein Muss für den erfolgreichen Händler der Zukunft.

Wie das aussehen kann, haben die Anbieter auf der Messe EuroCIS Ende Februar in Düsseldorf gezeigt. Beispielsweise präsentierte die Firma Wanzl mit "wanzl connect" eine Art digitales Cockpit für das Laden-Management. Darüber sollen sich alle möglichen Prozesse im Store steuern und optimieren lassen. Dem Anbieter zufolge stellt wanzl connect eine offene und modulare Softwareplattform dar, an die sich verschiedene Elemente wie beispielsweise intelligente Regalsysteme oder smarte Kassen am Point of Sale (PoS) anbinden lassen.

Zentrale Elemente des Systems sind mit RFID-Tags ausgestattete Einkaufswagen beziehungsweise Handkörbe. Diese liefern dem Händler wichtige Informationen über die Position der Kunden im Markt und ihr Nutzungsverhalten. Dazu zählen beispielsweise durchschnittliche Einkaufszeiten oder die Aufenthaltsdauer vor bestimmten Regalen. Deckensensoren ermitteln die Verweildauer vor gewissen Warengruppen und durch Heatmaps lassen sich Kundenlaufwege erkennen und optimieren. Ein Abgleich der Daten mit dem Kassensystem zeigt zudem die Conversion Rate. So lässt sich ermitteln, ob besondere Positionierungen von Waren oder Rabattaktionen funktionieren.

Cockpit für das Laden-Management

Mit dem Store Manager werden alle Daten eines Marktes auf einer Plattform gesammelt. Er dient als Informations-, Kommunikations- und Schaltzentrale des Filialleiters. Im Store erzeugen vernetzte Einkaufswägen, smarte Regale und Kassen Daten. Dies gilt für Wanzl-eigene Geräte wie auch für Einrichtungsgegenstände anderer Anbieter zum Beispiel Lichtsteuerung, Kühlgeräte und Pfandstationen. Alle Daten laufen in der Wanzl Cloud zusammen und können in Echtzeit auf einem Smart Device wie Smartphone, Tablet oder PC angezeigt werden. Mit Hilfe von Analysen kann das System Empfehlungen abgeben, um einen reibungslosen Marktbetrieb sicherzustellen und den Umsatz zu steigern. Beispielsweise lassen sich Alarme einrichten, wenn bestimmte Produkte auszugehen drohen oder ein Engpass an der Kasse bevorsteht. In solchen Fällen kann der Manager seinen Mitarbeitern entsprechende Aufgaben zum Beispiel über eine Smartwatch zuteilen und diese beispielsweise bitten, einzelne Sortimente aufzufüllen oder Kassen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu besetzen.

Mit "Wanzl Connect" erhalten Manager einen Überblick, was in ihren geschäften gerade passiert und können entsprechend Personal und Waren steuern.
Foto: Wanzl

Bei der Digitalisierung im Handel geht es in erster Linie um Daten, sagt Andreas Starzmann, Director Digital Office bei Wanzl. Damit könnten sich die Händler in Zukunft differenzieren, um ihren Kunden ein komfortables Einkaufserlebnis zu bieten. Im Mittelpunkt steht dabei die Ansprache der Kunden. Als Beispiel führt Starzmann intelligente Regalsysteme an, die dem Kunden über Displays mehr Informationen und ein erweitertes Sortiment anzeigen könnten. Im Idealfall könne der Kunde dort direkt ein gewünschtes Produkt aus dem online verlängerten Regal ordern und sich nach Hause liefern lassen.

Auch Aruba nimmt die Bewegungsmuster der Kunden in den Ladengeschäften ins Visier. Der Vernetzungsspezialist hat mit Meridian eine App-Plattform vorgestellt, die in Kombination mit Lokalisierungstechniken wie Beacons in der Lage ist, Kunden zu steuern und an den richtigen Stellen mit passenden Informationen, beispielswiese Zusatzangeboten oder Rabattaktionen, zu versorgen. Die App-Inhalte sollen Ladenbetreiber einfach via Cloud über den webbasierten Meridian-Editor verwalten können. Darüber hinaus bietet die Plattform der HPE-Tochter ein Software Development Kit (SDK), mit dessen Hilfe sich Meridian-Funktionen wie Gebäudepläne, Wegbeschreibungen und Push-Benachrichtigungen in den Apps ergänzen lassen.

Die Aruba-App weist Kunden den Weg - im Laden zu bestimmten Artikeln und zum Parkplatz, wenn man das Auto im unübersichtlichen Einkaufszentrum nicht mehr findet.
Foto: Aruba

Kasse ist nicht nur Kasse

Auch am Point of Sale verändern sich die Abläufe. Einfache Kassensysteme, über die Waren eingescannt und abgerechnet werden, werden in Zukunft nicht mehr ausreichen. Auf die Kassen kommen immer mehr Aufgaben zu, zum Beispiel neue Funktionen rund um Click & Collect. Kunden ordern online Produkte und holen diese später im Laden ab. Der Bezahlvorgang kann bereits im Web erledigt sein oder die Kunden zahlen die Ware erst bei Abholung. Wichtig ist, dass die Kassensysteme über die richtigen Informationen verfügen.

Für immer mehr Händler bildet die Kasse den Dreh- und Angelpunkt für verschiedenste kanalübergreifende Kundenservices. Die Systeme müssen aktuelle aber möglichst auch kommende Payment-Anwendungen handhaben können, sei es mobil per Smartphone oder kontaktlos via Karte. Gleichzeitig müssen hier Services rund um die Kundenbindung integriert und abgebildet werden, beispielsweise Coupons, Boni und Rabattierungen aller Art.

Bilderkennungssysteme schlagen den Kunden beim Self Checkout auf den Kassenwaagen passende Artikel vor. Damit soll das langwierige Suchen nach dem richtigen Produkt ein Ende haben, sagt Hersteller NCR.
Foto: NCR

Ein zunehmend wichtigeres Thema an der Kasse wird Self Checkout (SCO) - obwohl Selbstbedienungskassen mittlerweile 20 Jahre alt sind, wie Vertreter des SCO-Pioniers NCR anmerken. Der Hersteller hat eine neue Generation seiner Self-Checkout-Systeme vorgestellt, die Händlern neue, teilweise auf künstlicher Intelligenz basierende Funktionen bieten. Um Frischeprodukte wie Gemüse und Obst richtig abzurechnen, erkennt ein integrierter Bildscanner Farbe, Form und Größe. Legt ein Kunde Artikel auf die Waage eines SCO-Systems, schlägt dieses dazu passende Artikel aus dem Sortiment des Händlers vor. Der Kunde wählt die richtige Ware aus und das Produkt wird in der angeschlossenen Selbstbedienungskasse abgerechnet. Zudem verhindert die Technik dem Hersteller zufolge Etikettenschwindel: So wird erkannt, ob die Attribute des Artikels mit der ausgewählten Ware übereinstimmen oder nicht. Passen die Informationen nicht zusammen - beispielsweise eine teure Ananas als billiger Apfel deklariert - schlägt die Kasse Alarm und weist den Kunden auf den Fehler hin.

Spiegel an Verkäufer - bitte kommen!

Theoretisch scheinen den technischen Fantasien keine Grenzen gesetzt. Jedenfalls haben die Anbieter noch jede Menge IT-Spielereien in der Hinterhand, die das Einkaufserlebnis smarter machen sollen. Zum Beispiel intelligente Spiegel im Modehandel. Wer kennt das nicht? Die Hose, die man mit in die Umkleidekabine genommen hat, passt nicht. Also heißt es, wieder anziehen, zurück auf die Verkaufsfläche, Hose eine Nummer größer raussuchen, zurück in die Umkleide und hoffen, dass sie jetzt besser passt. Ein intelligenter Spiegel in der Umkleide könnte via NFC automatisch registrieren, welche Artikel ein Kunde zur Anprobe mitgenommen hat. Passt etwas nicht, könnte man über ein Touch-Display eine größere oder kleinere Variante anfordern. Ein Mitarbeiter im Shop bekommt dann eine Nachricht auf ein mobiles Device wie Smartphone oder Smart Watch, dass der Kunde in Kabine 3 die Hose Modell XY gerne in Größe 34 anprobieren möchte. Und warum dann noch an der Kasse anstellen? Hat sich der Kunde zum Kauf entschlossen, könnte er gleich via mobile Payment am intelligenten Spiegel bezahlen, seine Ware einpacken und direkt aus dem Laden spazieren.

Auch Techniken rund um Augmented und Virtual Reality bieten Händlern neue Chancen. Beispielsweise wird es damit möglich, Konsumenten durch virtuelle, mittlerweile sehr authentisch wirkende Produktwelten zu führen. Damit ließen sich verschiedenste Produktvariationen realitätsnah abbilden oder in unterschiedlichen Umgebungen darstellen. Im Möbel- oder auch im Autohandel bieten sich hier große Chancen in den Läden, den Kunden ein realitätsnahes Produkterlebnis zu ermöglichen. Zunehmend interessant für Händler werden auch Roboter. Diese können dabei helfen, Kunden im Markt darüber zu informieren, wo bestimmte Waren zu finden sind beziehungsweise welche Eigenschaften oder Inhaltsstoffe ein Produkt hat. Außerdem lassen sich die maschinellen Helfer dafür einspannen, Produkte aus dem Lager zu holen oder dort Inventur zu machen.

Viel Potenzial versprechen zudem Techniken für künstliche Intelligenz. Für GK Software zum Beispiel liegt der Schlüssel für eine möglichst kundenindividuelle Ansprache in der Nutzung von KI. Damit lasse sich in Echtzeit aus großen Datenmengen das passende Angebot für jeden einzelnen Kunden berechnen. Der Anbieter präsentierte auf der EuroCIS mit der "retailtime decisioning engine" (rde) eine Lösung für die Omni-Channel-Personalisierung, mit deren Hilfe sich individuell zugeschnittene Angebote in Echtzeit auf unterschiedlichen Devices ausspielen lassen sollen. Auf KI und Echtzeitauswertung basiert auch "Dynamic Pricing". Die Lösung ist GK Software zufolge in der Lage, für Millionen von Produkten immer wieder den bestmöglichen Preis in Abhängigkeit von verschiedenen Parametern zu errechnen. Je nach Kontext werden Preise vollautomatisiert an das aktuelle Kundenverhalten und die sich ständig ändernde Marktsituation inklusive dem Wettbewerbsverhalten angepasst. Im Ergebnis können, basierend auf der prognostizierten Preisakzeptanz der Verbraucher, die optimalen Preise für jeden Handelskanal ermittelt werden, lautet das Versprechen des Anbieters.

Mehr Mut zu Innovationen

Die wunderbare Welt des digitalen Einkaufs ist technisch machbar, so zeigte die EuroCIS. Und doch mahlen die Mühlen hier weiter langsam, denn die neue Technik kostet und bevor Geld für die Digitalisierung der Geschäfte fließt, müsse der Nachweis erbracht sein, dass die neue Technik auch konkreten Nutzen bringt, berichtet Wanzl-Manager Starzmann. Zudem gehe es auch um das richtige Augenmaß. Rund um RFID-Tags an exklusiven und teuren Produkten lasse sich durchaus ein Geschäftsmodell entwickeln, dagegen gäben solche Tags an jeder Hefepackung zu 15 Cent keinen Sinn.

Smart Store Matrix: Das Potenzial verschiedener neuer Techniken für den Handel.
Foto: EHI

Darüber hinaus gibt es für die Händler im Zuge der Digitalisierung noch jede Menge Herausforderungen zu meistern, die Probleme beginnen bei kulturellen Fragen. "Der Handel braucht eine Kultur des Research & Development", sagt beispielsweise Ralf Schienke, der den Vertrieb für die Handelslösungen von Fujitsu in der DACH-Region verantwortet. Gerade die veränderten Abläufe und Prozesse erforderten Planung und ein Gesamtkonzept. Schienke verweist auf den Dreiklang aus Datenanalysen, Erkenntnisse und daraus abzuleitenden Aktionen. Um diesen Optimierungskreislauf kontinuierlich am Laufen zu halten, sei mehr Automation unabdingbar.

Eine weitere wichtige Aufgabe, die die Händler zu lösen haben, ist die Integration neuer Techniken in bestehende Strukturen, um so ein Gesamtkonzept zu entwickeln. Gerade die großen Ketten arbeiten mit über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gewachsenen IT-Infrastrukturen. Diese Legacy-IT ist in aller Regel zu monolithisch und zu starr, um neue Funktionen schnell und flexibel umsetzen zu können. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach einer passenden Plattform immer wichtiger. Michael Schulte, Vice President und Head of Sales bei Diebold Nixdorf, spricht von einer Art Middleware-Layer, über den sich mittels Application Programming Interfaces (APIs) verschiedene Services zusammenschalten lassen. Diebold Nixdorf bringt an dieser Stelle sein "Storevolution"-Programm ins Spiel. Darüber sollen sich Technologien verschiedener Hersteller bereitstellen und betreiben lassen. Der aus seiner Kassensystem-Historie bekannte Hersteller bietet dafür beispielsweise Software aus seiner "Vynamic"-Serie: "Mobile Shopper" unterstützt das Self-Scanning von Waren im Laden. Außerdem können Kunden über die Mobile Retail App ihr eigenes Smartphone als Scanner und Paymant-Device verwenden.

Die Software-as-a-Service Lösung "Vynamic Engage" liefert eine Lösung für kanalübergreifende Werbeaktionen und Echtzeitkampagnen. Durch die Erfassung, Kombination und Analyse von Kundendaten generiert Vynamic Engage Kundenprofile und soll so eine personalisierte Kundenansprache basierend auf früheren Einkaufsmustern erlauben. Das fördert die Kundenbindung und sorgt letztendlich für höhere Umsätze, verspricht der Hersteller. Die auf offenen Schnittstellen (Open APIs) basierende Lösung ist in das Vynamic Retail Software Portfolio integriert, könne aber auch in bestehende Softwareumgebungen eingebunden werden.

Eine Plattform wollen aber auch andere Anbieter etablieren. Beispielsweise hat das Softwarehaus Godesys eine modulare Lösungsplattform für den Handel im Programm. Darin enthalten: CRM, ERP, POS und spezielle Retail-Funktionen. In vielen modernen Handelsunternehmen erweise es sich als wettbewerbsentscheidender Vorteil, sämtliche für den Handel wichtigen Funktionalitäten in einer durchgängigen Lösung zu bündeln, heißt es von Seiten des Anbieters. Godesys Retail wird auch als Cloud-Lösung angeboten.

Händler akzeptieren zunehmend Cloud-Lösungen

Cloud-Lösungen scheinen insgesamt für die Händler interessanter zu werden. Das beobachtet Ralf Kern, Global Vice President für die Industry Business Unit Retail bei SAP. Vor fünf Jahren sei die Cloud in der gesamten Branche noch kategorisch abgelehnt worden. Heute fragten Händler, die beispielsweise nach Software für ihre HR-Prozesse suchten, dediziert nach Cloud-Lösungen. SAP hat mit "S/4HANA Retail" eine eigene Handelslösung im Programm und forciert seine Cloud-basierte IoT-Plattform Leonardo als Fundament für Retail-Lösungen. Daran ließen sich verschiedenste Spezialanbieter über APIs anbinden. Rund um die Plattform baut der deutsche Softwarekonzern ferner an einem Ecosystem mit Startups. Außerdem entwickelt SAP selbst verschiedene Lösungen, beispielsweise mit "Fiori" als Benutzeroberfläche am Frontend, die auch für Android und iOS-Geräte verfügbar sind. Über die Sprachschnittstelle "SAP CoPilot" ließen sich zudem digitale Assistenten wie Alexa, Cortana, Google Home oder Siri anbinden.

Daten bilden, wie in vielen anderen Branchen, auch im Handel das Fundament sämtlicher Digitalisierungsinitiativen. Doch der Umgang mit dieser Ressource stellt die Händler vor neue Herausforderungen, auch weil Kunden wie Behörden in Datenschutzfrage äußerst sensibel reagieren. Das EHI Retail Institute will im Rahmen einer Umfrage herausgefunden haben, dass Kameras in Ladengeschäften gelassen zur Kenntnis genommen würden. 84 Prozent der Kunden würden solchen Überwachungssystemen neutral gegenüber stehen. Knapp 12 Prozent hielten deren Einsatz sogar für positiv. Wer also als Händler in eine Kameraanlage investiert, muss kaum negative Reaktionen befürchten, so der Schluss der Experten.

Gesichtsanalysen schrecken Datenschützer auf

Da scheint allerdings eher der Wunsch Vater des Gedankens zu sein. Vor knapp einem Jahr sorgte die Supermarktkette Real für negative Schlagzeilen. In 40 Läden seien Kunden seit dem Herbst 2016 vor Werbebildschirmen per Video beobachtet worden, gaben die Verantwortlichen zu. So habe die Kamera alle Blickkontakte des Kunden mit dem Bildschirm erfasst und analysiert, genauso wie Geschlecht und Alter. Die Daten seien nur für die Dauer der Betrachtung gespeichert worden, versicherte der Händler. Die Kunden seien darüber informiert worden, hieß es unter Verweis auf die Hinweisbeschilderung in den Läden, wonach diese videoüberwacht würden. Begründung für die Aufnahmen: Der Betreiber des Systems Echion wolle damit die Qualität der ausgestrahlten Werbefilme zielgruppenorientiert anpassen.

Datenschützer stuften diese Videoüberwachung als höchst problematisch ein: "Im Internet muss der Nutzer über die Erstellung pseudonymer Profile zum Zweck der Werbung informiert werden und kann sein Widerspruchsrecht ausüben", konstatierte der Hamburgische Beauftragte für den Datenschutz, Johannes Caspar. "Im Supermarkt soll der Kunde nun digital erfasst und automatisiert vermessen werden." Doch davon bekämen die Kunden nichts mit, auch könnten sie sich gegen das Scannen nicht wehren. "Wenn sich die Geschäftsideen des "real life tracking" durchsetzen, werden wir vermutlich künftig unter Datenschutzgesichtspunkten raten müssen, besser im Internet einzukaufen", folgert Caspar.

Für heftige Proteste sorgte ein ähnlicher Vorstoß von Bayer in österreichischen Apotheken im November vergangenen Jahres. Dort wurden Gesichter von Kunden gescannt, um diesen anhand entsprechender Analysen passende Produkte auf einem Werbedisplay anzubieten - nach dem Motto: Wer eine schniefende Nase hat, braucht sicher ein Erkältungsmittel. Zwar beteuerte der Pharmakonzern, die Daten würden weder gespeichert noch weitergegeben oder mit anderen Informationen verknüpft. Der Aufschrei der Datenschützer war trotzdem laut und vernehmlich. Bayer informiere zwar über die Praxis, von einer Einwilligung der Kunden könne jedoch keine Rede sein. Wer nicht überwacht werden wolle, müsse woanders einkaufen, das sei eine "Friss-oder-Stirb-Mentalität", kritisierte die Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage.

Kunden-Service oder Kunden-Kontrolle

Die Beispiele Real und Bayer zeigen, wie sensibel der Umgang mit Daten behandelt werden muss. Beide Unternehmen sahen sich nach anhaltenden Protesten dazu veranlasst, ihre Experimente mit der Gesichtserkennung von Kunden wieder zu beenden. Wie kritisch gerade die Initiativen im Handel beobachtet werden, zeigen auch die Reaktionen auf Amazon Go. Der ehemalige Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, hielt nach einem Bericht der "Zeit" vom Dezember 2016 das Ladenkonzept des Online-Riesen für nicht vereinbar mit europäischen Datenschutzbestimmungen. Für den Kunden sei nicht nachvollziehbar, welche Daten beim Einkaufen gesammelt werden und was mit ihnen passiere - ob automatisch erstellte Bilder gespeichert oder Emotionen beim Einkaufen festgehalten würden. Schaar geht davon aus, dass von jedem Kunden ein exaktes Profil zusammengestellt wird: "Die Daten aus dem Netz werden mit den Daten der Sensoren verknüpft, was dazu führt, dass die Verbraucher identifiziert und ihre Bewegungen im Shop aufgezeichnet werden." Das Konzept basiere darauf, den "Menschen total zu kontrollieren".

Ein Königsweg, wie Händler die richtige Balance zwischen Automatisierung und Datenschutz halten können, ist derzeit nicht abzusehen. Fujitsu-Manager Schienke plädiert für völlige Transparenz. Um das Vertrauen der Kunden zu gewinnen, sollten Unternehmen offenlegen, welche Daten sie gespeichert haben und wie sie diese verwenden. Außerdem könnte man den Kunden erlauben, ihre Datensätze selbst zu editieren, spinnt Schienke die Idee weiter. Eine solche Datensouveränität erhöhe das Vertrauen und könnte letzten Endes auch zu einer besseren Datenqualität führen, wenn die Kunden beispielsweise ihre Interessen korrigierten.

Zumindest Amazon scheint sich von derlei Problemen und Herausforderungen nicht bange machen zu lassen. Das Unternehmen hat bereits wenige Tage nach Eröffnung seines ersten Go-Stores durchblicken lassen, weitere sechs Läden eröffnen zu wollen. Nach Berichten der US-Website Recode sind fünf weitere Filialen in Seattle sowie ein Go-Laden in Los Angeles geplant.

Kassenlos

Auch in Europa ist das Konzept angekommen. Anfang März hat der Elektro-Riese Saturn in Innsbruck seine erste kassenlose Filiale eröffnet. Kunden können in dem zunächst als Pilotprojekt konzipierten "Saturn Express" Store die Ware direkt am Regal bezahlen. Über eine App scannt der Kunde Ware und Preis. Gezahlt wird via Kreditkarte oder PayPal. Ist die Rechnung beglichen, wird automatisch die Diebstahlsicherung deaktiviert.

Im "Saturn Express" scannen und bezahlen die Kunden die gewünschten Artikel per Smartphone-App.
Foto: Media-Saturn

Laut MediaMarktSaturn handelt es sich hier um den "ersten kassenlosen Consumer Electronics Store Europas". Das Pilotprojekt wurde gemeinsam mit dem britischen Startup MishiPay umgesetzt. Die Briten gehören zu den ersten zehn Teilnehmern des Retailtech Hub, einem Startup-Accelerator der MediaMarktSaturn Retail Group. "Disruptive Innovationen werden so gut wie immer von Startups entwickelt", erklärte Martin Wild, Chief Innovation Officer der MediaMarktSaturn Retail Group. Der Retailtech Hub sei ins Leben gerufen worden, um die Handelsunternehmen unterschiedlicher Branchen und Startups für den Handel von morgen zusammenzubringen.