Von Online nach Offline

Multi-Channel-Strategien im Praxistest

25.08.2016 von Dr. Gesa Crockford und Thomas von Wichert
Was E-Commerce-Unternehmen beachten müssen, wenn sie auch im stationären Einzelhandel Fuß fassen wollen.
 
  • Ist die Marke für den Schritt in den klassischen Handel geeignet?
  • Welche Mitarbeiter sind gute "Offline"-Verkäufer?
  • Ist der Standort für den PoS passend?
  • Welcher Nutzen entsteht durch die stationäre Präsenz?
So wie der traditionelle Handel erst mühsam lernen musste, welche Gesetze in der Welt des E-Commerce herrschen, gilt es nun für die reinen Online?Händler, die Funktionsweise des stationären Handels zu verstehen und für sich neu zu erfinden.

Die Digitalisierung hält immer mehr Einzug in Unternehmen und beeinflusst zunehmend deren Arbeitsprozesse. Doch nicht in allen Geschäftsbereichen setzt sich das Internet durch, wie eine Studie des E-Commerce Verbandsbevhvom Oktober 2014 zeigt.

Die stationären Vertriebswege werden von Verbrauchern nach wie vor in bestimmten Sortimentsbereichen präferiert. Im Schmuck- und Uhrenmarkt werden beispielsweise nur rund 30 Prozent des Umsatzvolumens online realisiert und auch im Spielwaren-Bereich liegt der klassische Einzelhandel noch bei einem branchenbezogenen Umsatzanteil von knapp 41,8 Prozent.

Chancen des stationären Handels

Natürlich wird sich der stationäre Handel in den kommenden Jahren stark verändern, denn die Kunden gewöhnen sich daran, offline zu stöbern und online einzukaufen. Sie lassen sich die gekaufte Ware nach Hause liefern oder holen sie im Laden ab. Multi-Channel wird aus Verbrauchersicht zum Standard.

Die großen E-Commerce Unternehmen sind aber meist nur mit einem Vertriebskanal aktiv und werden somit den Anforderungen des modernen, multiple Absatzwege nutzenden Kunden, der eine kanalübergreifende Präsenz erwartet, nicht gerecht. Dies führt auch zu einer Limitation ihres eigenen Wachstums, denn ein Multi-Channel-System hat nachgewiesene Vorteile.

So geben Kunden im stationären Ladengeschäft mehr aus, wenn sie sich vor dem Kauf im Internet informiert haben. Andersherum kann eine Beratung im stationären Handel für den Online?Kauf dienlich sein. Auch bei der Abholung von im Internet bestellter Ware im Laden entstehen durch Mitnahmeeffekte hohe Mehrwerte für echte Multi-Channel-Retailer. Außerdem macht eine stationäre Filialpräsenz den Konsumenten immer wieder auf die Retailbrand aufmerksam und es entsteht für den Kunden die Möglichkeit, real zu erleben, was die (virtuelle) Marke verkörpert.

Ergebnisse der Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle" 2015
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Individual-Software ist im Handel traditionell verbreitet und auch für Multichannel bevorzugt.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
In Mobile Commerce wird besonders häufig investiert.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Bei der Preisgestaltung über die verschiedenen Kanäle sind sich die Vergleichsgruppen uneinig
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Die Planungen zur Sortimentsauswahl in den Kanälen sind sehr unterschiedlich
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Auch Fachbereiche wollen die IT bereits in der Strategieentwicklung einbeziehen.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Organisatorische Strukturen sind größere Hemmnisse als die Technologie.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Umsatzanteile im deutschen Einzelhandel
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Die Dauer des Wettbewerbsvorteils wird sehr unterschiedlich eingeschätzt.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Einzelhandel sieht Multichannel eindeutig als Chance
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Den einen Vorreiter in Sachen Multichannel gibt es (noch) nicht^.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Vor allem in der Elektronik- und Fashion-Branche wird Multichannel-Fähigkeit entscheidend sein
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Mobile Commerce ist der stärkste Veränderungstreiber für den Einzelhandel.
Lünendonk-Trendstudie 2015 "Einzelhandel in der Multichannel-Zeitfalle"
Bedeutung von Multichannel für Elektronik und Fashion am höchsten (Branchenauswertung).

Gerade vor dem Hintergrund des im Online?Bereich investierten Kapitals und des Wunsches zur Erzielung eines maximalen Returns-on-Investments (ROIs) ist die Verfolgung von Multi-Channel-Strategien in diesem Sinne insbesondere für größere E-Commerce-Anbieter sinnvoll, denn erfolgreiche E-Commerce-Unternehmen haben bereits viel in ihre Markenbildung investiert.

Im Inland können Wachstumspotentiale innerhalb des Internets aktiv nur über Verdrängung, Diversifikation und einen steigenden Anteil von Online-Käufern gehoben werden. Beim Wachstum über Internationalisierung müssten die Investitionen in Bekanntheit und Image erneut getätigt werden. Das Wachstum über stationäre Läden stellt in diesem Sinne vor allem bei bekannten Online-Händlern eine attraktive Vorgehensweise dar.

Offline-Pioniere aus dem Internet

Einige Online Anbieter haben diese Chancen bereits erkannt, denn bereits seit 2011 gibt es Offline-Aktivitäten von ehemals reinen E-Commerce Unternehmen.

Als Pionier kann in diesem Zusammenhang eBaygenannt werden, die in London, Berlin und New York temporäre "Pop-up-Stores" errichteten. Die Pop-up-Stores wurden als Weihnachtsboutiquen mit einer Auswahl von knapp 200 Bestsellern des Sortiments konzipiert. In den eBay-Stores gab es keine Kassen. Die Kunden bezahlten mit ihren Smartphones durch Scannen der jeweiligen QR-Codes. Anschließend wurde der Artikel nach Hause geliefert.

Fünf Ideen für den Omnichannel-Handel der Zukunft
Echtes Autohaus virtuell besichtigen
Fiat setzt auf Live-Videoübertragungen, um potenzielle Kunden anzusprechen. Dabei präsentieren Mitarbeiter mit Headset und Webcam neue Modelle. Gleichzeitig blendet Fiat Informationen und Farbvariationen ein. Die Zuschauer können Probefahrten vereinbaren.
Über Barcodes Gutscheine für Freunde erstellen
Mit der mobilen Anwendung Jifiti können Nutzer in ausgewählten Geschäften Barcodes an Produkten einscannen und daraus Geschenkgutscheine herstellen. Diese lassen sich digital versenden. Der Empfänger kann damit das Geschenk im Laden abholen oder es online bestellen.
Laden markiert die auf Pinterest beliebtesten Waren
Die in Seattle ansässige Kaufhauskette Nordstrom markiert jene Produkte, die auf Pinterest am häufigsten gepinnt werden. Momentan verfügt Nordstroms Pinterest-Account über 4,5 Millionen Follower, so dass die Schilder die Meinung einer erheblichen Anzahl von Kunden repräsentieren.
Touchscreen mit endlosem Warenkatalog
Die britische Supermarktkette Tesco stellt in Filialen Touchbildschirme auf, auf denen Kunden mehr als 11.000 Produkte finden. Die Artikel lassen sich unter anderem nach Preis filtern. Kunden können die Produkte an einem Abholschalter mitnehmen oder sich nach Hause schicken lassen.
Nahtloser Kundendialog über mehrere Kanäle
Der Anbieter SapientNitro erlaubt mit dem System Connected Retail einen Kundendialog über mehrere Kanäle. Ein Sportartikelhändler ermöglicht Kunden mit Connected Retail, sich zuhause von einer virtuellen Shoppingassistentin online beraten lassen und einen Besuchstermin im Geschäft vereinbaren. Im Laden ist die Assistentin per Bildschirm an der Beratung beteiligt.

Diese gemäß dem Vorbild von eBay nur kurzzeitig bestehenden stationären Ladengeschäfte spielen einerseits mit dem Knappheitsprinzip der begrenzten zeitlichen Verfügbarkeit, was erstaunliche Abverkäufe in kürzester Zeit bewirkt. Andererseits erzeugen die Pop-up-Stores viel Aufmerksamkeit und haben somit positive Effekte auf die Markenbekanntheit und das innovative Image der E-Commerce-Anbieter. AuchZalando,Ray-BanundUrbanarahaben mit Pop-up-Stores erste stationäre Erfahrungen sammeln können.

Die SchnäppchenseiteGrouponhat den Schritt zum physischen Ladenlokal ebenfalls bereits vollzogen. Im stationären Groupon-Store in Singapur gibt es Computerterminals sowie einige Apple iPads, an denen die Kunden browsen, kaufen und ihre Deals direkt drucken können. Mit Hilfe des Ladenlokals will Groupon einerseits ein besseres Verständnis für seine Kunden gewinnen und andererseits durch die persönliche Beratung beim Kauf auch die Unsicherheit der Konsumenten beim Online-Schnäppchenkauf abbauen.

Ähnlich wie Groupon nennt auch die ehemalige reine Online-Luxuslabel-BoutiqueStylebopals Ursache für die Eröffnung seines ersten stationären Ladengeschäfts die größere Kundennähe und einen verbesserten Kundenservice.

Was E-Commerce-Unternehmen beim Schritt in den stationären Handel beachten sollten

So wie der traditionelle Handel erst mühsam lernen musste, welche Gesetze in der Welt des E-Commerce herrschen, gilt es nun für die reinen Online-Händler, die Funktionsweise des stationären Handels zu verstehen und für sich neu zu erfinden. Wichtig ist dabei vor allem eine systematische Vorgehensweise, welche mit einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Marke beginnt:

4 Tipps, wie man mit Multichannel den Verkauf ankurbeln kann
Multichannel-Werkzeuge sinnnvoll einsetzen
Kanäle wie der eigene Onlineshop, Newsletter, soziale Netzwerke und die stationäre Filiale sollten konsequent miteinander verzahnt werden. Quelle: Prodware
Starke IT im Hintergrund
Unternehmen, die das Thema Crosschannel erfolgreich umsetzen möchten, müssen die Weichen in erster Linie mit einer optimalen IT-Infrastruktur stellen. Quelle: Prodware
Potential des stationären Handels nutzen
Geht es um Elektronik und Mode, kaufen Verbraucher ihre Produkte vorzugsweise im stationären Geschäft. Quelle: Prodware
Kanäle klug verzahnen
Mit der stetig wachsenden Zunahme an mobilen Endgeräten erwarten Kunden mehr denn je, Produktinformationen jederzeit und überall abrufen zu können und im besten Falle auch zu kaufen. Quelle: Prodware

Sind diese Fragen beantwortet und die ehemalige Online-Marke für ihre Nutzung im stationären Handel bereit, muss das E-Commerce Unternehmen seine Marke physisch erlebbar machen. Hierzu müssen die Aspekte Place, Product, Price, Personal und Promotion bearbeitet und mit schlüssigen Konzepten hinterlegt werden.

Bei Konzepten für den "Place" geht es darum, Standortentscheidungen zu treffen und Läden zu gestalten, in denen sich der Kunde wohlfühlen und einfach orientieren kann. Damit dies geschehen kann, sind

Bei Konzepten für das "Product", geht es um alle Produkte und Dienstleistungen, die der Kunde zukünftig im stationären Handel erwerben oder in Anspruch nehmen kann. Der Kunde erwartet dabei Fachkompetenz und eine an die Marke angepasste Sortimentsbreite und -tiefe. Bei der Formulierung der Sortimentsstrategie für den stationären Vertriebskanal muss folglich festgelegt werden, ob das Online-Sortiment und Dienstleistungsangebot übernommen, reduziert oder erweitert werden soll.

Da Flächen im stationären Handel allerdings begrenzt sind, muss meist ein Weg gefunden werden, das Online-Angebot zu reduzieren, ohne aus Sicht des Kunden an Vielfalt einzubüßen. Clevere Wege zur Integration des Online-Kanals in die stationäre Präsenz können hier die Antwort bieten.

Die Festlegung der Preisstrategie stellt für Multi-Channel-Anbieter ebenfalls eine zentrale Herausforderung dar. Die überzeugten Nutzer des Online-Stores kennen meist Preisniveau und Preisgefüge und wissen, wann welche Rabatte gewährt werden.

Hier gilt es, beim Hinzufügen des neuen stationären Kanals Irritationen zu vermeiden. In diesem Sinne muss die Preisstrategie der einzelnen Vertriebskanäle gleichzeitig und unter gegenseitiger Berücksichtigung festgelegt werden, wodurch unter Umständen auch eine Anpassung von Preisstruktur und Preisniveau des bestehenden Online-Kanals nötig sein könnte.

Das Personal bildet im stationären Handel die greifbaren Markenrepräsentanten. Sie müssen Marke, Sortiment und Dienstleistungen sowie Abläufe verstehen und sich mit dem Gesamtgebilde identifizieren. Wenn der Kunde dies wahrnehmen kann, hat er ein glaubwürdiges Markenerlebnis, das seine Loyalität gegenüber dem Händler langfristig prägt. Hierfür sind die folgenden Schritte zu unternehmen:

Das Konzept für die "Promotion" umfasst schließlich alle kommunikativen Maßnahmen - sowohl des gesamten Unternehmens als auch des Geschäftes vor Ort. Damit diese professionell ablaufen, bedarf es einer Anpassung der Markenkommunikation, um ihre Funktionsfähigkeit im Store abzusichern. Alle Inhalte, Medien und Werbemittel müssen für die lokale Kommunikation im Ladengeschäft und dessen Einzugsgebiets definiert werden. Technische Lösungen wie etwa Datenbankensysteme können dabei helfen, Synergien zwischen Standorten zu schaffen.

Verstehen E-Commerce-Anbieter die Faktoren Standort, Frequenzen, Räume, Inneneinrichtung, Licht, Gerüche, begrenzte Flächen, Kundenlauf, Warenpräsentation sowie Service und persönliche Kommunikation mit dem Kunden als neue Möglichkeiten, lassen sich mit einem digitalen Background beim Schritt in die reale Welt neue und attraktive Filialkonzepte erschaffen, die den Einzelhandel erneut revolutionieren werden und Retail-Brands schaffen, die durch eine sinnvolle Integration des Internet-Channels in den stationären Kanal attraktiver für den Kunden sein können als der heute bekannte stationäre Handel.

Martin Tschopp, ex-eBay-Deutschland-Chef: "Online oder Offline? Das ist nicht die richtige Art zu denken. Beide Bereiche werden künftig immer mehr verschmelzen".
Foto: ebay

In diesem Sinne resümiert auch Martin Tschopp, ex-eBay-Deutschland-Chef: "Online oder Offline? Das ist nicht die richtige Art zu denken. Beide Bereiche werden künftig immer mehr verschmelzen". (rw)

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