iSCM-Analyse - Digitalisierung des Handels

Retail im New Normal

20.12.2022 von Rudolf Aunkofer
Multi-Channel, Omni-Channel, Customer Journey, Customer Experience, Erlebnis-Shopping, das waren die Retailing-Schlagwörter vor Pandemie und Lockdowns.
Die 15 wichtigsten Trends des "New Retail".
Foto: iSCM Institut

Die letzten zwei Jahre haben auf das Nachhaltigste deutlich gemacht, dass sich der Retail-Channel endgültig von seinen Automatismen des „Old Normals“ aus dem letzten Jahrzehnt verabschieden muss – zumindest all diejenigen Retailer, die nach der Disruption „Pandemie“ in Zukunft weiter erfolgreich Retailing machen wollen.

Bereits vor zwei Jahren haben wir hier Ihnen die 10 Gebote des neuen Retails vorgestellt. Die strukturellen Veränderungen auf Anbieter- wie Nachfrage-Seite erfordern es allerdings, diese 10 Gebote des Retailings zu erneuern und an die heute gegebene Marktsituation anzupassen.

Retailing für Technik-Produkte ist heute und wird in Zukunft in keinster Weise mit dem Retailing von vor der Pandemie zu vergleichen sein. Die "alten" Konzepte haben für nahezu alle Produktbereiche ausgedient und muten teilweise fast wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert an. Die schillernden "Vor-Pandemie-Konzepte" sind Vergangenheit, nicht Zukunft. Der Retail-Channel muss das tun, was er schon mehrmals getan hat: sich neu erfinden.

Weder Konzepte wie Erlebnis-Einkauf oder personalisierter Einkauf aus dem Food- und Fashion-Bereich, noch weiterhin in den Kinderschuhen steckende digitale Technologien wie Augmented oder Virtuell Reality (AR/VR) konnten überzeugen. Langfristige Kundenbindung wie nachhaltige Kostensenkung wurden nicht erreicht.

Tech-Customer-Journey: Erforschung und Bewertung

Die neue Customer-Journey - oder besser gesagt die Vielzahl an individuellen Customer-Journeys - verlaufen wenig bis nicht mehr linear. Das klassische Funnel-/Trichter-Modell ist für Tech-Produkte nicht länger relevant. Dank Digitalisierung, stark vereinfachter Informationssuche und einem Überangebot an Information starten Customer-Journeys von unterschiedlichsten Touchpoints aus und gestalten sich aufgrund des Überspringens und dem Wiederholen einzelner Phasen stark kundenindividuell.

Newsletter, Produkt-Websites, klassische Werbung mit QR-Code, Blogs, YouTube-Video, Instagram oder Facebook-Post, Suchmaschinen, Preisportale, Marktplätze oder Online-Shops - herstellerspezifisch wie allgemein - eine zu verallgemeinernde Reihenfolge in der Nutzung einzelner Touchpoints lässt sich nicht länger finden.

Konsumenten wechseln in ihrer Tech-Customer-Journey zwischen einem

und einem

Dieser Wechsel kann unbegrenzt oft passieren, bis ein subjektives Gefühl an Informationssicherheit entstanden ist. Oder - vor allem bei gelernten Produkten/Commodities - kann er auch nur ein einziges Mal auftreten, ganz entfallen oder sich auf das Vergleichen von Preisen (und im Online-Handel von Lieferkosten) beschränken.

Rudi Aunkofer, iSCM Institut: "Der Retail-Channel muss sich neu erfinden."
Foto: iSCM Institute

Der Kauf selbst, wie die gesamte Customer-Journey, wird zudem immer stärker von situativen Faktoren beeinflusst, beispielsweise: Welche Informationen werden wahrgenommen, wo findet das Suchen nach Informationen statt, welche Geräte werden benutzt, wie viel Zeit kann investiert werden, welche Inhalte werden bewusst selektiert?

Digitale Einkaufskompetenz: Markt- und Preis-Transparenz

Die Customer-Journey wird dadurch einerseits mehr spontan und kurzfristig. Andererseits entwickeln sich Kunden zu Spezialisten, die bei wichtigen Anschaffungen über mehr Detailwissen verfügen als der ein oder andere Verkäufer im Shop selbst. Der Kunde von heute ist besser informiert denn je.
Die Verfügbarkeit von und der einfache Zugriff auf (digitale) Information führt zu Markt- wie Preistransparenz.
Konsumenten vergleichen Produkteigenschaften im Detail, wägen diese gegeneinander ab und treffen Entscheidungen i.d.R. deutlich bewusster. Bewusst bedeutet auch, dass Commodities, Produkte mit wenig wahrgenommenen Unterschieden, gelerntem Nutzungsverhalten oder begrenztem Investment impulsiv oder emotional rein über Markenbindung ohne großes Nachdenken nach- und wiedergekauft werden.

Hinzu kommt, dass Konsumenten aufgrund von Lockdowns und geschlossenen Geschäften gezwungen waren, sich kurzfristig digitale Einkaufskompetenz anzueignen. Die Notwendigkeit, aufgrund von "Everything at Home" viele Produkte schnell nachzukaufen, führte zu einem Lernprozess, der die Customer-Journey für Technik-Produkte irreversibel verändert hat.

Der Konsument hat gelernt und erlebt, dass "digital Kaufen" in punkto Produktfokussierung und Effizienz - die zentralen, entscheidenden Faktoren der Tech-Customer-Journey - sehr gut abschneidet. Der Umgang mit Warenkörben und Online-Shops, die Vor- wie Nachteile von Preissuchmaschinen, die bequeme Lieferung direkt nach Hause, der Zugriff auf ein deutlich erweitertes Produktangebot eignen sich nahezu perfekt für den bequemen digitalen Einkauf von zu Hause aus, sobald sich Konsumenten das erforderliche Know-how - wenn auch zwangsweise - angeeignet haben.

Diktat der Preistransparenz

Aufgrund hoher Kaufkraft (wie wir sie in Deutschland vorfinden) und einer pandemiebedingten Limitierung von Freizeitaktivitäten, ist die Haushaltsausstattung für Technik-Produkte auf einem Allzeithoch. Die fünf grundlegenden Faktoren, um sich für den Kauf eines Produktes zu entscheiden, bleiben bestehen, erfahren im "New Normal" allerdings eine neue Gewichtung:

Das Preisniveau wird zwar weiterhin den grundsätzlich adressierbaren Kundenkreis bestimmen. Die erlebbare Preisreduktion, die preislichen Vorteile - je nach Käufertypus - werden jedoch deutlich stärker als in der Vergangenheit den Kaufzeitpunkt und die Wahl des Retailers/eTailers dominieren.
Transparenz bzgl. Produkteigenschaften und Preis verstärken diesen Faktor vor allem bei Commodities und nicht image-relevanten Produkten.
Selbst Marke, vor-Ort-Service, Servicequalität und Servicesicherheit können dem "Diktat des Preises" nur bedingt entgegenwirken. Die zum Teil sehr großzügige Handhabung von Gewährleistungsregelungen trägt ein Übriges zu dieser Situation bei.
Die genannten Faktoren verlieren somit an Relevanz zugunsten der gefühlten preislichen Vorteile.

Somit ist es nicht verwunderlich, dass die Kunden bei Wiedereröffnung der Geschäfte weder Schlange gestanden haben, noch nennenswerter Nachkaufbedarf bestanden hat - und das ganz unabhängig von der Tech-Branche.

Die stückzahlenbasierte Nachfrage nach Desktops, Notebooks, Monitoren, Druckern oder Festplatten war in 2021 genau so negativ wie die nach Smartphones, Docking-Speaker oder TV-Geräten. Lediglich eine Verlagerung der Nachfrage hin zu höherwertigen Geräten sowie punktuelle Preisanpassungen nach oben, hat den Channel vor zusätzlichen Herausforderungen bewahrt. Auch dies eine Konsequenz des Allzeithochs bei der Haushaltsausstattung.

Entscheidend für die kommenden Jahre ist daher die Fähigkeit des Handels, produktfokussierte Informationssuche zu erleichtern und Effizienz - für viele Konsumenten in punkto Zeit - entlang der Customer-Journey sicher zu stellen. Für extensives wie stark vereinfachtes habitualisiertes Kaufverhalten sind die beschriebenen, ineinander übergehenden Erforschungs- und Bewertungsphasen einfach und kundenfreundlich zu ermöglichen.

Die 10 Gebote des Retailing im New Normal

Für Technik-Produkte sollte der Retail verstärkt versuchen, Konsumenten vor allem in der Zeit zwischen einzelnen Käufen an sich zu binden, um Up- wie Cross-Selling und dadurch erzielbaren Mehr-Umsatz möglich zu machen, um im Gedächtnis zu bleiben. Die 10 Gebote für Retailing im "New Normal" geben hier eine klare Orientierungshilfe:

Der Retail - in seiner Gesamtheit wie auch von jedem einzelnen Händler für seine Kunden - hat heute die einzigartige Chance, sich gegenüber dem Konsumenten als zentrale Plattform in der Customer-Journey zu positionieren, indem er geeignete Touchpoints mit entsprechenden Informationen und Services anbietet, so dass alternierende Erforschungs- und Bewertungsphasen möglich sind. Dadurch wird es für den Konsumenten möglich, seine individuelle Customer Journey komplett mit und über den Retail abzuwickeln. Der Retail erhält die Möglichkeit, Mehrwerte zu bieten, die im New Normal Retail wahrgenommen werden und sich darüber erfolgreich zu differenzieren. Der Retail wird zum zentralen Ökosystem für den Konsumenten.

New Normal Retailing: "online first"

"Eine neue pragmatisch-effiziente wie bequeme Shopping-Experience bieten" war das Fazit unseres Artikels vor fast zwei Jahren. Diese Empfehlung ist nach wie vor gültig, ebenso wie die erforderliche Akzeptanz aller Maßnahmen beim Konsumenten. Hinzu kommt nun die eindeutige und klare Prämisse Online First - selbstverständlich für größere Retailer, aber auch Schritt für Schritt immer mehr für kleinere Retailer vor Ort.

Nicht nur Auffindbarkeit, sondern auch einfache Kontaktaufnahme, bequemer Online-Kauf oder Bestellen und Abholen, Buchen von Services, Reservieren von Terminen im Shop, Remote-TroubleShooting und vieles mehr werden hierdurch möglich und schaffen die notwendige Kundenakzeptanz.
Dies betrifft in gleicher Weise digital Natives, also Menschen die als digitaler Anwender aufgewachsen sind (und oftmals über begrenztes Technik-Detail-Wissen verfügen), wie auch digitale Immigranten, also jene Menschen, die mit analoger Technologie aufgewachsen sind und nicht mit allen technischen Details von heute vertraut sind oder sein wollen.

Der Retailer sollte eine Komfort-Zone schaffen, aus der sich der Konsument freiwillig nicht mehr heraus bewegen möchte. Gerade vergleichsweise lange Wiederbeschaffungszyklen, die üblich für Technik-Produkte sind, bieten diese Optionen. Dank Digitalisierung und "online first" ist dies auch für kleinere Retailer bezahlbar. Retail als Ökosystem Denken, also auch mit neuen Partnerschaften und Kooperationsformen, ist das Potential, das die neue Customer-Journey bietet. Der Retail-Channel hat heute die einzigartige Chance, seine Zukunft aktiv und gemeinsam zu gestalten.

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