Werte – Ziele – Verhalten

Achilles oder Odysseus – von wem sollen Manager lernen?



Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.

Ein typisches Management-Dilemma

Wer ist der echte, wahre Held? Achilles, der klare Prinzipien hat und bereit ist, für sie Opfer zu bringen - und dadurch eine Mannschaft erzeugt, die hinter ihm steht? Oder Odysseus, der zweckorientiert die Moral biegt, seine Ziele erreicht, jedoch Gefahr läuft, hierüber seine Mannschaft zu verlieren? Dieses Dilemma kennen viele Manager.

Dazu passt eine Geschichte, die mir der Inhaber einer kleinen Werbeagentur erzählte: Ein Mitarbeiter seiner Firma kam zu ihm und sagte: "Chef, wir haben doch einen Computer bestellt. Die Firma hat zwei geliefert. Es steht aber nur einer auf der Rechnung. Was soll ich tun? Soll ich die Firma auf den Fehler hinweisen, oder soll ich abwarten, ob von denen noch jemand den Fehler bemerkt?"

Ein Unternehmer, bei dem der Manager-Typ Odysseus stark ausgeprägt ist, würde dem Mitarbeiter vermutlich antworten: "Lass' uns den zweiten Computer behalten und den Vorteil nutzen." Doch welche Botschaft würde er damit an den Mitarbeiter senden? Ganz klar: Sei opportunistisch! Sei stets auf Deinen Vorteil bedacht - selbst wenn Du hiermit anderen schadest." Wie lange würde es wohl dauern, bis sich auch der Mitarbeiter - getreu dieser Maxime - auf Kosten des Unternehmers und seiner Firma bereichert? Was ist also besser für Manager, Achilles oder Odysseus zu sein?

Wie das Dilemma lösen?

Jeder Manager steht im übertragenen Sinn täglich mindestens einmal vor dieser Frage - im Kontakt mit Kunden, Lieferanten, Kollegen und Mitarbeitern. Und in einer Welt, in der man an der Zielerreichung gemessen wird, ist die Versuchung groß, listig zu sein - also stets zweckorientiert zu handeln, die Moral manchmal etwas zu verbiegen, Unangenehmes zu beschönigen oder auszublenden. Vielleicht kommt man damit sogar durch. Doch zu welchem Preis?

Das Problem ist nur: Den Griechen gelang es, nachdem sie schon zehn Jahre erfolglos gegen die Mauern von Troja angerannt waren, mit Hilfe des "trojanischen Pferdes" - also mit List und Tücke - endlich den Krieg zu gewinnen. Und Odysseus schaffte es, indem er seine Identität verleugnete und sich "Niemand" nannte, den Zyklop Polyphem zu übertölpeln und mit den meisten seiner Männer dem sicheren Tod zu entrinnen. Und mit einer List setzte er sogar ein Naturgesetz beziehungsweise göttliches Gesetz außer Kraft - nämlich, dass jeder, der dem Gesang der Sirenen lauscht, sterben muss. Odysseus war der erste Mensch, dem dies nicht widerfuhr.

Deshalb nochmals die Frage, wer Managern eher als Leitbild dienen kann: Achilles, der "prinzipientreue Idealist", oder Odysseus, der "listige Grenzenüberwinder"? Vermutlich müssen Manager beide Helden-Typen in sich vereinen. Sie müssen zudem - situationsabhängig - für sich, immer wieder entscheiden, wie viel Raum sie diesen beiden Manager-Typen bei ihrem Handeln einräumen, damit sie einerseits die nötige Wirkung entfalten und andererseits ihre persönliche Identität und Integrität bewahren.

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