Arbeitszeugnisse: "... denn sie wissen nicht, was sie tun!"

22.11.1996
MÜNCHEN: Arbeitszeugnisse zu verfassen ist ebenso schwer, wie sie zu interpretieren. Fehlende Kenntnis und differierende Auffassungen um Inhalte und Aussagen verursachen viele Probleme und führen nicht selten zu falschen Reaktionen. Im folgenden Beitrag gibt Stefan Rohr* einige Tips zur transparenten und geradlinigen Zeugnisfindung und Bewertung.Wer Zeugnisse häufig ließt, kennt vielleicht die nachfolgende Formulierung:

MÜNCHEN: Arbeitszeugnisse zu verfassen ist ebenso schwer, wie sie zu interpretieren. Fehlende Kenntnis und differierende Auffassungen um Inhalte und Aussagen verursachen viele Probleme und führen nicht selten zu falschen Reaktionen. Im folgenden Beitrag gibt Stefan Rohr* einige Tips zur transparenten und geradlinigen Zeugnisfindung und Bewertung.Wer Zeugnisse häufig ließt, kennt vielleicht die nachfolgende Formulierung:

"... Herr Dr. Pankratius Knerzenbeck war stets bemüht, den Anforderungen weitestgehend gerecht zu werden ...", was nichts anderes bedeutet, als daß er sich zwar dauerhaft gewissen Mühen unterzogen hat, diese jedoch stets ohne nennenswerten Erfolg geblieben sind. Der Verfasser hätte auch gleich schreiben können, daß Knerzenbeck blöd ist.

Nun - die Tücken der Zeugnisverfassung und vor allem auch der Zeugnisinterpretation sind vielseitig und meist sehr versteckt. Allerdings liegen diese auch das eine oder andere mal wie ein offenes Buch auf dem Tisch. So bemerkte ich vor einiger Zeit bei den Bewerbungsunterlagen einer Kandidatin eine äußert prägnante und ungewöhnliche Übereinstimmung des Wortlautes in den letzten aufeinanderfolgenden vier Arbeitszeugnissen. Übereinstimmungen sind hierbei nicht so selten, doch auffallend war, daß ganze Sätze identisch waren, sogar der Zeugnisaufbau, bis auf Nuancen, Absatz für Absatz wie ein Ei dem anderen glich - bis auf den Unterschied, daß die attestierten Leistungen von Mal zu Mal lobsängiger wurden.

Obwohl diese Erkenntnis für sich sprach, lud ich die Kandidatin doch zu einem Vorstellungsgespräch ein. In diesem kam ich recht schnell auf meine Beobachtung zu sprechen und bat die Bewerberin, mir das Zustandekommen einmal näher zu erläutern. Nach einigen Windungen gab sie dann zu, die Zeugnisse allesamt selbst geschrieben zu haben. Natürlich auf den besonderen Wunsch ihrer ehemaligen Vorgesetzten, die diese ja schließlich auch unterschrieben hätten und somit die Richtigkeit der Inhalte bestätigt haben. Das Bewerbungsgespräch war damit zu Ende.

Diese kleine Episode aus dem Leben eines Personalmenschen birgt sicherlich vieles Bekanntes für den Leser. So wird sich der eine oder andere daran erinnern, daß er selbst auch schon einmal einen ziehenden Mitarbeiter gebeten hat, den Zeugnistext "vorzubereiten". Vielleicht kommt aber auch die Erinnerung auf, bei der Formulierung eines Arbeitszeugnisses schon einmal - rein zur Orientierung - einen oder auch zwei Blicke auf vorangegangene Zeugnisse geworfen zu haben. Mit ein wenig Chance wird aber auch jemand unter Ihnen sein, der sein eigenes Zeugnis wirklich selbst formuliert und zur Unterschrift vorgelegt hat. Behalten Sie's für sich - und wir sagen es auch nicht weiter.

Wie auch immer: Heute sind vielleicht Sie es, die Zeugnisse Ihrer Bewerber zu lesen und zu beurteilen haben - oder sollte ich lieber "zu interpretieren" sagen. Da stehen Sie nun vor Worten und Sätzen, suchen nach verborgenen Zeichen, tiefsinnigen Hintergründen und nicht selten mit einem der so oft bezeichneten "Halbwissen", die gerade bei der Zeugnisinterpretation zu Fehlentscheidungen führen.

Zeugnisse waren eine lange Zeit für Nichteingeweihte ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder Satz hatte einen Hintergrund, jeder Ausdruck war unter Umständen mit einer tiefsinnigen "Geheimaussage" codiert, jede Unterlassung und jede Hervorhebung hatte womöglich das Signal in sich, daß es sich bei dem betreffenden Mitarbeiter um ein großes Mehlauge handelt. Sicherlich ist Ihnen der Witz nicht unbekannt, in dem einem Mitarbeiter bestätigt wird, daß er besonders gesellig und ein fröhliches Gemüt aufweist, was diesen als Quasselstrippe, Abteilungs-Clown und Trinker identifiziert.

So kursieren seit jeher die abenteuerlichsten Meinungen und Interpretationen. Hier ein weitverbreitetes Beispiel: Ist nun die Bestätigung der "vollen Zufriedenheit" oder die der "vollsten Zufriedenheit" besser. Die eine Seite schwört darauf, daß jedes Superlativ in einem Zeugnis nichts anderes bedeutet als "Vorsicht bitte", die andere Seite schwört Stein und Bein, daß gerade bei der Zufriedenheitsbestätigung eben das Weglassen der Superlative "Vorsicht bitte" bedeutet. Dem Letzteren übrigens schließe ich mich an - doch was nützt mir dieses, denn ich kenne die Auffassung des Verfassers nicht.

Von diesen Auffassungen gibt es viele. Und was haben wir nun heute davon? Kaum jemand weiß mehr Bescheid im Formulierungs-Dschungel. Kaum jemand nimmt die Zeugnisse noch wortwörtlich. Kaum jemand verläßt sich darauf, daß das eigene Formulierungsempfinden auch identisch mit dem Verfasser ist. Was sollen wir dann somit noch mit diesen Testaten und Persilscheinen? Sparen wir uns die Mühe und kleben unsere Visitenkarten auf ein weißes Papier, mit dem Hinweis: ich stehe als Referenz gern zur Verfügung - oder eben nicht.

Na klar: Dann ist dem persönlichen Rachefeldzug oder der subjektiven Meinungsäußerung ja völlig freier Raum gelassen. Zeugnisse basieren auf einem Rechtsanspruch. Und dieser sichert allen Mitarbeitern zu, daß der Zeugniswortlaut nicht negativ anmutet, der Mitarbeiter somit nicht bei der Findung eines neuen Arbeitsplatzes behindert oder benachteiligt wird.

Doch Hand aufs Herz: Welchen Stellenwert nimmt das Arbeitszeugnis heutzutage bei der Bewerberauswahl noch ein. Lesen Sie selbst wirklich jedes Zeugnis intensiv und interpretativ durch? Lassen Sie sich selbst nicht vielmehr durch den Gesamteindruck der Bewerbung leiten? Ist dieser positiv, so lesen Sie die Zeugnisse doch völlig anders, als im umgekehrten Fall. Machen Sie sich einmal den Spaß, einige der Arbeitszeugnisse Ihrer Mitarbeiter auf der Basis Ihrer heutigen Beurteilung duchzulesen ...

Nun soll an dieser Stelle nicht darüber diskutiert werden, ob zukünftig Zeugnisse noch zu schreiben sind oder nicht. Auf das "Wie" kommt es an. Das "Wie" entscheidet über den Gebrauchswert aus Sicht Ihres Mitarbeiters und aus Sicht des zukünftigen Lesers. Dabei wird es immer schlechte und gute Zeugnisse geben. Nicht von der Aussage her, vielmehr von der Qualität der Offenheit und Verständlichkeit.

Wer seinen Mitarbeitern einen Gefallen tun möchte, führt in einer Fußnote noch den folgenden Text ein: "Dieses Zeugnis enthält keine verschlüsselten Hinweise (GewO ñ113, Absatz 3). Jede Interpretation im Sinne sogenannter Unternehmens-Codes würde unsere Aussage verfälschen."

Dieser Text weist eindeutig darauf hin, daß der Zeugnisscheiber meint was er schreibt und dieses mit den eigenen Worten bestmöglich auszudrücken versucht hat. Ein Formulierungs-Freak ist dieser nicht, ebensowenig wie ein Insider und Kenner der "Zeugnis-Codierung". Das macht es dem Bewerber leicht. Genauso, wie es den Schreiber von einem schweren Joch befreit.

Eine solche Formulierung zeugt von Ehrlichkeit und Offenheit und sollte als gutes Beispiel vorangehen. Denn das Arbeitszeugnis ist ein Dokument mit Urkundencharakter. Wenn wir uns demnächst alle daran halten würden, wäre die Welt der Zeugnisse bald bei weitem mehr in Ordnung, als es derzeit der Fall ist. Bis dahin gilt für die meisten: Seid den Verfassern nicht böse, denn sie wissen ja nicht, was sie tun.

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