Distribution und Logistik

"Stetig gegen den Strom schwimmen"

01.02.2013
Von Sven Ohnstedt

Lieferbereitschaft und Sicherheitsbestände

Ihnen zufolge erfordert eine Lieferbereitschaft in Höhe von 99 Prozent einen etwa doppelt so großen Bestand wie eine Bereitschaft in Höhe von 97 Prozent.

Kemmner: Das ist keine feste Formel, sondern ein grundsätzliches Prinzip. Es besteht ein statistischer Zusammenhang zwischen Lieferbereitschaft und Bestand.

Prof. Götz-Andreas Kemmner: "Die Software in den Unternehmen eignet sich häufig nicht dazu, die Lieferbereitschaft richtig zu berechnen."
Prof. Götz-Andreas Kemmner: "Die Software in den Unternehmen eignet sich häufig nicht dazu, die Lieferbereitschaft richtig zu berechnen."
Foto: Abels & Kemmner GmbH

Können Sie den Zusammenhang erklären?

Kemmner Um es möglichst einfach zu halten: Unternehmen haben einen sogenannten Grundbedarf an Artikeln, die sie in ihr Lager legen. Denken Sie, mathematisch nicht ganz korrekt, an den durchschnittlichen Verbrauch in einem Monat. Darüber hinaus legen sie sich aber noch einen Sicherheitsbestand auf Lager. Dieser dient dazu, um auf unerwartete Ereignisse reagieren zu können - beispielsweise die schwankende Nachfrage der Kunden nach dem Artikel.

Je größer die Schwankungen, desto größer der notwendige Sicherheitsbestand?

Kemmner: Bei gegebener Lieferbereitschaft, ja, ganz genau. Lieferbereitschaft bedeutet ja, dass eine bestimmte Menge der Nachfrage tatsächlich bedient werden kann. Bei einzelnen Artikeln kann es vorkommen, dass Sie die Bestände verdoppeln und verdreifachen müssen, um die Lieferbereitschaft hochzuhalten. Im Kehrschluss gibt es selbstverständlich auch Artikel, die überhaupt keine Probleme bereiten - sprich: kaum schwanken.

Wie werden Sicherheitsbestände berechnet?

Kemmner: Die Software in den Unternehmen eignet sich häufig nicht dazu, die Lieferbereitschaft richtig zu berechnen. In vielen Fällen hinterlegt der Vertrieb sogenannte Lieferbereitschaftsgrade - er stellt die Lieferbereitschaft also nach Gefühl ein und somit eben teilweise exorbitant zu hoch oder eben viel niedrig. Wenn Unternehmen ein bisschen differenzierter an die Thematik herangehen, dann verwenden sie statistische Standardverfahren, mit denen die notwendigen Sicherheitsbestände berechnet werden. Diese statistischen Verfahren gehen jedoch zum Großteil von einer falschen Situation aus.

Den Verfahren liegt in aller Regel eine Normalverteilung zugrunde, oder?

Kemmner: Richtig, wobei damit nachgefragte Mengen gemäß ihrer Häufigkeit abgebildet werden. Die Verfahren gehen demnach davon aus, dass die nachfragte Menge eines Produkts stets relativ nahe am durchschnittlichen Wert liegt, also deutliche Schwankungen nur sehr selten vorkommen. Dies trifft aber auf 90 bis 95 Prozent der Produkte nicht zu. Demnach rechnen diese Verfahren systematisch falsch - und zwar nicht um ein paar Prozent, sondern eben mit erheblichem Fehler.

Können Sie erklären, was unter Advanced Planning zu verstehen ist?

Kemmner: Es gibt spezielle Systeme, die sich mit eben solchen Problemen beschäftigen - sogenannte Addon-Systeme. Diese können an dieser Stelle deutlich differenzierter arbeiten.

Wozu Addons? Reicht das ERP-System nicht aus?

Kemmner Wenn Sie einen Sicherheitsbestand mit einem ERP-System berechnen, dann meistens mithilfe einer der besagten Standardverfahren, die mehrheitlich nicht zutreffen - solche Systeme sind Generalisten. Dennoch wird das Ergebnis des ERP-Systems in der Regel erst einmal unkritisch akzeptiert. Später stellt sich heraus, dass man trotz hoher Bestände nicht immer liefern kann. In der Folge wird das ERP-System wieder abgeschaltet. Man kehrt also zum manuellen Betrieb zurück. Wie gesagt: Diese ERP-System haben gar nicht den Anspruch, jedes spezielle Problem lösen zu können.

Sie bezeichnen besagte Addon-Systeme nicht als Werkzeug, sondern als Waffe. Wieso?

Kemmner Diese Systeme haben ein Problem: Die Mathematik, die im Hintergrund abläuft, ist ziemlich komplex. Der Anwender muss sich dennoch zurechtfinden, also eine verständliche Bedienungsoberfläche vorfinden. Das ist nicht immer so einfach zu bewerkstelligen. Deswegen bezeichne ich diese Systeme als Waffen: Wenn man sie unbedarft einsetzt, verbrennt man sich schnell die Finger daran.

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