Entlassungen wirken sich auch auf nicht gekündigte Mitarbeiter aus

02.04.1999

MÜNCHEN: Eine Dissertation an der Universität St. Gallen deckt die produktivitätsbremsenden Mechanismen von Entlassungs-aktionen auf.Untersuchungen in Großbritannien und den USA haben in den letzten Jahren bereits darauf aufmerksam gemacht: Wird bei Entlassungs-aktionen die Betreuung der verbliebenen Belegschaftsmitglieder, der "survivors", wie sie im angelsächsischen Sprachgebrauch genannt werden, versäumt, reagieren die "Hinterbliebenen" mit deutlichen Motivationsverlusten.

Diese Reaktion untersucht die Dissertation des Schweizer Betriebswirtschaftlers Sämi Berner an der Universität St. Gallen genauer. Sie zeigt, daß die Survivors auf den Personalabbau

- mit starken Emotionen und

- mit erheblichen Einstellungsveränderungen

dem Unternehmen gegenüber "antworten".

Die emotionale Reaktion führt dazu, daß das zunächst positive Gefühl der Erleichterung, nicht entlassen worden zu sein, in sein klares Gegenteil umschlägt. Die negative Gefühlsskala reicht dabei von Ängsten vor längeren Arbeitszeiten; geringeren Aufstiegschancen und eigenem Stellenverlust bei möglichem weiteren Stellenabbau über Schuldgefühle, die verstärkt auftreten, wenn die Survivors Überstunden leisten müssen, während die Entlassenen keine neue Anstellung finden, bis hin zu heftigem Zorn auf die Geschäftsleitung.

Die Einstellungsveränderung bewirkt

- ein rapides Sinken der Arbeitszufriedenheit und

- eine drastische Reduzierung der inneren Bindung an den Betrieb.

Am stärksten verringert sich die Betriebsbindung bei den Belegschaftsmitgliedern, die sich vor der Personalreduktion besonders eng mit dem Betrieb verbunden fühlten und die zudem die Entlassungen als unfair ansehen.

Weiter registrierte Berner bei zahlreichen Survivors einen gravierenden Vertrauensverlust der Unternehmensleitung beziehungsweise dem Management gegenüber. Wieder mit dem Effekt, daß sich die bisher loyalsten Mitarbeiter dem Unternehmen am meisten entfremden. Mit der Folge, daß die Absicht zum Stellenwechsel bei den Verbleibenden rapide ansteigt.

Besonders brisant dabei ist, daß Survivors, die nach einer Personalreduktion aus eigenen Stücken kündigen, oft jüngere, hochqualifizierte und -produktive Belegschaftsmitglieder mit guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind. Es droht mithin die Gefahr, daß die leistungsfähigsten Verbleibenden die Organisation am ehesten verlassen.

Diese von Berner offengelegte Negativkaskade macht plötzlich wissen-

schaftliche Studien im alltagspraktischen Sinn verständlicher, die seit geraumer Zeit darauf aufmerksam machen, daß es noch nicht einmal jedem zweiten Betrieb gelingt, nach einem Personalabbau die Produktivität zu erhöhen. Im Detail führt Berner diese Tatsache darauf zurück, daß Survivors nach einer Personalreduktion zur persönlichen Absicherung zwar weiterhin eine genügende, aber das Engagement vor dem Personalabbau bei weitem nicht erreichende Leistung erbringen.

Verbleibende sind zudem tunlichst bestrebt, keine Fehler zu machen, da diese bei der nächsten Personalreduktion gegen sie verwendet werden könnten. Diese Angst vor Mißerfolgen führt zu einem wenig innovativen Verhalten. Die Verbleibenden tragen dadurch kaum zur Kompensation der nach dem Personalabbau fehlenden Kapazitäten und Potentiale bei.

Eigentlich, wundert sich Berner, "ist dieses Reaktionsmuster erstaunlich, haben die Survivors doch ihren Arbeitsplatz behalten." Weshalb also Frustration statt Freude? Weil, wie er herausfand, ein erstmalig durchgeführter Stellenabbau eine radikale Umgestaltung des Beziehungsgefüges zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern einleitet, nämlich das faktische Ende der gewohnten langfristigen Arbeitsverhältnisse.

Bislang boten die Arbeitnehmer Loyalität und hohen Arbeitseinsatz, die Arbeitgeber langfristige Beschäftigungssicherheit, regelmäßige Lohnerhöhung und Beförderungen an. Zum Betrieb passende Mitarbeiter mit entsprechender Arbeitsleistung verfügten aufgrund dieses lange unbestritten gebliebenen psychologischen Vertrags über einen sicheren Arbeitsplatz - bis sie sich aus eigenen Stücken verändern wollten oder aus dem Arbeitsleben ausschieden.

Im Gegensatz dazu ist das in der Folge entstehende neue Arbeitsverhältnis viel mehr auf einen Austausch von Leistungen als auf langfristige Beziehungen ausgerichtet. Mit der Konsequenz, daß nicht mehr die jeweilige Beschäftigung Zukunftssicherheit bietet, sondern das ständige Erlangen und Weiterentwickeln von Fähigkeiten und Kenntnissen.

Berner: "Der psychologische Vertrag ist ein wichtiger Bestimmungsfaktor des individuellen Arbeitsverhaltens in einem Unternehmen. Nach Jahren als selbstverständlich angesehener Stabilität bricht ein überraschender Personalabbau diese unausgesprochene Übereinkunft und stellt damit die Arbeitsbeziehung auf eine völlig neue Grundlage!"

Wie Berner weiter herausfand, verändern sich die Emotionen, die Einstellungen und dadurch das Verhalten der Verbleibenden nicht zwangsläufig bei allen Personalreduktionen in gleicher Weise. Außerdem sind die entstehenden Reaktionsmuster beeinflußbar. Und zwar über zwei wichtige Bestimmungsgründe für die Reaktionen der Survivors:

- die empfundene Gerechtigkeit des Personalabbaus und

- die wahrgenommene Veränderung der Arbeitsbedingungen.

Generell reagieren Survivors um so negativer, je unfairer der Personalabbau von ihnen eingestuft wird und je mehr die Veränderungen der Arbeitsbedingungen als Bedrohung wahrgenommen werden. Sollen Motivationsschäden im Zusammenhang mit Personalreduzierungen verhindert werden, müssen die Erläuterungsbemühungen und Betreuungsmaßnahmen hier einsetzen.

Um Leistungs- und Loyalitätsschäden vorzubeugen, sollte die Geschäftsleitung die Gründe und Ziele des Personalabbaus sowie die Hilfestellung für die Entlassenen unbedingt erläutern. Situationsentspannend wirken auch Hinweise auf für die Survivors geplante Weiterbildungs- und sonstige Betreuungsaktivitäten. Weiter rät Berner dazu, Führungskräfte zur Begleitung und Motivation der Survivors, aber auch für den Umgang mit den eigenen Gefühlen zu schulen.

Vieles deutet darauf hin, daß sich der Personalabbau in der Wirtschaft fortsetzen wird. Wenn Berners Dissertation vordergründig auch nur die Konsequenzen des Stellenabbaus beleuchtet, hintergründig erhellt sie eine ganz grundsätzliche Problematik der Unternehmensführung am Ende des 20. Jahrhunderts: die Notwendigkeit, ertragsorientiertes mit sozialverträglichem Handeln zu verbinden.

Und so lautet denn Berners Metabotschaft: Humanes, sozialverantwortliches und ergebnisorientiertes, betriebswirtschaftliches Handeln dürfen nicht länger als Gegensätze begriffen werden. Es sind zwei Seiten einer Münze. Nachhaltig gute Unternehmensergebnisse verlangen eine nachhaltig gute Personalarbeit. Im planenden, steuernden und fürsorgenden Handeln auf strategischer Ebene im Hintergrund wie in der unmittelbaren Interaktion zwischen Führungskräften und Mitarbeitern auf taktischer Ebene im Vordergrund. Sprich im alltäglichen Führungsgeschehen.

In diesem Sinne forderte denn auch Ulrike Detmers, Professorin an der Fachhochschule Bielefeld, anläßlich des Bielefelder Podiumsgesprächs "Wie sieht der Unternehmer von morgen aus?" eindrücklich: "Der Unternehmer von morgen sollte die Verknüpfung der Willensprinzipien Gewinnmaximierung und Sozialverantwortlichkeit zu obersten Regeln seines Handelns machen!"

Denn, so die selbst in einem Familienbetrieb in unternehmerischer Mitverantwortung stehende Expertin für Personalwesen und betriebliche Sozialwissenschaften: "Es ist mittel- und langfristig kontraproduktiv, wenn sich unternehmerisches Engagement vorrangig daran ausrichtet, die Bedürfnisse der Kapitaleigner nach maximaler Verzinsung des eingesetzten Kapitals zu befriedigen." Was Berner überzeugend nachgewiesen hat!

Der Autor, Hartmut Volk, ist freier Journalist in Bad Harzburg.

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