Netzklempner in der Wüste: ein großer Schluck Internet

18.05.2000
Wie nicht anders zu erwarten, stand die diesjährige Networld+Interop ganz im Zeichen des Internet und seiner Möglichkeiten. Doch das Mögliche ist bekanntlich nicht immer auch das Wirkliche.

Das konnte keiner der rund 60.000 Besucher der Networld+Interop 2000 in Las Vegas übersehen: Das Internet hat die Netzwerkbranche fest im Griff - es ist omnipräsent. Die gut 850 ausstellenden Unternehmen, die sich vom 7. bis 12. Mai im Wüstenstaat Nevada zur kollektiven Nabelschau versammelten, sind in Goldgräberstimmung. Doch viele Schürfstellen erweisen sich als noch als Baustelle.

"Das Internet wird die Plattform aller Geschäftstätigkeiten werden", ließ Microsoft-Chairman Bill Gates in seiner Eröffnungsrede keine Zweifel aufkommen. Und so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das weltumspannende Netzwerk auf Teufel komm raus aufgerüstet wird. Das spiegelte sich auch in der endlosen Zahl an Fachvorträgen und Referaten wider. Über drei Tage hinweg schlossen sich die Netzklempner dieser Welt in abgedunkelten, vollklimatisierten Konferenzräume ein und steckten die Köpfe zusammen. Universitäre Forschungsgruppen, Hersteller wie auch Anwender nutzten diese Veranstaltungen, um auszubaldowern, wie das Netz der Netze optimiert werden muss, damit der noch stotternde Wirtschaftsmotor E-Commerce endlich rund läuft.

Das scheint auch Motivationsgrund Nummer eins für den Wüstentreff zu sein. Denn die auf der dreitägigen begleitenden Ausstellung zu sehenden Produkte - graue oder schwarze Kästen, aus deren Rückseite sich mehr oder minder viele Kabel herausschlängeln -, können allenfalls die Herzen von Netzwerkingenieuren höher schlagen lassen. Allerdings strengten sich die Standbetreiber an, mit Live-Demonstrationen ihrer Musterlösungen die Aufmerksamkeit der Besucher zu erheischen. Wer sich beispielsweise mal einen Eindruck von der Sprachqualität eines über ein IP-Netzwerk geführten Telefonats verschaffen wollte, hatte reichlich Gelegenheit dazu. Das Stelldichein der Netzwerkindustrie verfolgt eben noch einen weiteren Zweck: Den IT-Einkäufern der Unternehmen vor Augen zu führen, mit welchen Vorteilen der Einsatz modernster Netzwerke und den darauf aufbauenden Diensten und Services einhergeht.

So drehte sich vieles um das Thema Voice over IP (VoIP). Hier lockt das Versprechen, Daten wie Sprache über ein und dasselbe Netz laufen zu lassen. Dazu genügt eine breitbandige Infrastruktur alleine natürlich nicht. Über die meist proprietären Schnittstellen müssen die bestehenden Telefonanlagen mit dem Netzwerk verbunden werden, Endgeräte zum Großteil ersetzt werden. Neben den technologischen Vorreitern Cisco und Lucent hat auf der Networld+Interop nun auch Siemens deutlich seine Absicht unterstrichen, sich tatkräftig in diesem Markt zu engagieren (siehe Kasten).

Propellerwirkung: Funknetze für E-Commerce

Ein weiteres Top-Thema der Zusammenkunft der Netzwerker war der drahtlose Zugang zum Internet. Kein Wunder: Die Online-Shop-Betreiber haben großes Interesse daran, dass Konsumenten jederzeit und überall - sei es per Handy, PDA oder Organizer - ihre virtuellen Läden betreten können und im besten Falle dort auch noch einkaufen. So arbeitet die Netzwerkindustrie heftig daran, den Traum vom "M-Commerce" (Mobile Commerce) möglichst schnell Wirklichkeit werden zu lassen. Technologien wie Bluetooth oder WAP werden hier nur als eine Übergangslösung verstanden.

Aber das Gerangel um die Etablierung eines weltweit gültigen Standards zur drahtlosen Übermittlung von Daten hält unvermindert an. Die Non-Profit-Organisation Wireless Ethernet Compatibility Alliance versucht hier, eine Vorreiterrolle zu übernehmen und unter "IEEE 802.11b High Rate" - kurz "Wi-Fi" genannt - einen Standard für den drahtlosen Zugang zu LANs zu etablieren.

E-Commerce-Hemmschuh Sicherheit

Die Angriffe von Hackern, die in der Vergangenheit über Stunden hinweg die Websites großer Internet-Firmen wie Amazon oder Yahoo lahmlegten, oder auch der binnen Stunden über das Internet verteilte E-Mail-Virus "I Love You", haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Netzwerkbranche hat sich vom Schock über die verheerenden Auswirkungen noch nicht erholt. Das Thema Sicherheit rückt immer stärker ins Bewusstsein der Anwender, und die Anbieter von Netzwerklösungen geraten mächtig unter Druck:

Sie müssen den potentiellen Käufern erklären, wie sicher Geschäfte im Internet abgewickelt werden können. Und da befindet sich die gesamte Netzwerkbranche im Erklärungsnotstand. So geriet denn auch Bill Gates Vorschlag, alle ans Internet angeschlossenen Endgeräte mit Smartcard-Einschüben auszustatten, zu einer echten Lachnummer auf der Messe. Nicht nur, dass er damit die Sicherheitslücken in den Microsoft-Produkten vertuscht, es zeigt sich durch diese Aussage das eigentliche Dilemma der Netzwerkzunft. Sie kann kein durchgängiges Sicherheitskonzept für das Internet-Business aufzeigen.

Jeder schiebt dem anderen die Schuld in Schuhe. Sicherheitstechnologien und -produkte wie IP-Secure, Firewalls oder Virtual Private Networks (VPNs) sind da nichts anderes als bloßes Flickwerk. "Wenn es der Netzwerkbranche nicht bald gelingt, das Internet als eine vertrauenswürdige Plattform zu propagieren, wird das E-Business nie an Fahrt gewinnen", erklärt ein Netzwerkverantwortlicher eines großen deutschen Unternehmens gegenüber ComputerPartner.

ASP - vieles bleibt ungeklärt

Genau vor einem Jahr wurde auf der Networld+Interop die Geburt des ASP Industry Consortiums bekannt gegeben. Und die Gründungsväter sollten Recht behalten: Application-Service-Providing ist das "nächste große Ding" im Netzwerkgeschäft. Zwei Tage lang konnten sich Interessierte von früh bis spät Vorträge und Referate zu diesem Thema anhören. Der Begriff wurde auf der Messe genau so inflationär gehandelt wie E-Commerce und E-Business. Doch jenseits der Euphorie blieb auch nach der Messe vieles unklar.

Die anwesenden ASP-Anbieter und solche, die sich als ein Teil davon verstehen, weil sie Morgenluft in diesem Marktsegment wittern, beschäftigten sich lieber mit sich selbst. Fragen wie

"Auf welche Client-Plattform sollen Unternehmen setzen, wenn sie sich mit einem ASP einlassen?"

"Welche Abrechnungsmodi eignen sich für das ASP-Modell?" oder

"Welche Netzwerkinfrastruktur brauchen ein ASP-Anbieter und ein ASP-Kunde?"

konnten selbst die amerikanischen ASP-Pioniere nicht befriedigend beantworten. "Das ist kein Wunder. Einfach jeder will im ASP-Geschäft mitmischen: die Internet-Service-Provider, neue wie etablierte Carrier, Systemintegratoren, Netzwerkausrüster und die ganze Software-Industrie. Die bringe mal jemand unter einen Hut", frozzelt Christopher Aronis, Consultant bei Network Strategy Partners. (cm)

www.zdevents.com/interop/lasvegas2000/

Zur Startseite