Das völlig unterschätzte Risiko

24.02.2000
Jeder vierte Deutsche wird vor Erreichen der Altersgrenze berufsunfähig. Aber nicht einmal jeder zweite Bundesbürger ist privat dagegen versichert. Viele Berufsgruppen erwischt es besonders hart. Vor allem in zahlreichen Handwerksberufen trifft dieses Schicksal fast die Hälfte aller Beschäftigten. Und auch Unternehmer und Geschäftsführer sind nicht dagegen gefeit.

Distributoren für IT-Technik und Telekommunikation können sich heute bei leicht verwechselbaren Produkten am besten mit einem guten Service gegenüber Mitbewerbern und Kunden profilieren. Das bedeutet in der Regel Hotline und eigene Werkstatt. Berufe wie Elektriker, Elektroinstallateure und Fernmeldemonteure sind in der Wartungstechnik gefragt. Laut dem Verband deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) werden aber 40 Prozent der Elektriker, 45 Prozent der Installateure und 55 Prozent der Monteure vor Erreichen der Altersgrenze erwerbsunfähig. Auch Lagerarbeiter sind stark gefährdet. Jeder vierte scheidet vorzeitig aus. Die große Berufsgruppe, die unter dem Stichwort Datenverarbeitungsfachleute zusammengefasst ist, kommt auf 31 Prozent Ausfälle vor dem 65. beziehungsweise dem 60. Lebensjahr. Bei den Bürohilfskräften liegt die Quote bei 28 Prozent, bei den Bürofachkräften - vorwiegend Frauen - bei 20 Prozent. Von den Verkäufern nehmen 27 Prozent vorzeitig den Hut. Und selbst jeden achten Unternehmer und Geschäftsführer trifft das Los der frühen Rente wegen Berufsunfähigkeit. Soldaten, Grenzschützer und Polizisten haben im Vergleich zu diesen zivilen Berufen ein wesentlich geringeres Risiko zu tragen. Nur jeder Zehnte in diesen Berufen geht vorzeitig in Rente.

Dass sich rund 56 Prozent der Deutschen in Bezug auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeit auf den gesetzlichen Rentenanspruch verlassen, ist gefährlich. Die gesetzlichen Leistungen beim Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sind heute schon bescheiden und werden möglicherweise noch weiter gekürzt. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger gibt die Durchschnittsrente mit 1.319 Mark pro Monat an. Das reicht laut Manfred Poweleit, Versicherungsanalytiker und Herausgeber des Map-Report, in vielen Städten nicht einmal aus, um die Miete für eine 70-Quadratmeter-Wohnung zu bezahlen. Die kostet beispielsweise in München im Schnitt bereits 1.368 Mark. Selbst im fortgeschritten Alter erreicht die Berufsunfähigkeitsrente von Vater Staat keine 1.500 Mark monatlich. Die Gutingia Lebensversicherung, die zur Göttinger Gruppe gehört, beschreibt die Versorgungslücke so: Als Faustformel gilt, dass Erwerbsunfähige ein gutes Drittel ihres letzten Bruttoeinkommens erhalten. Bei Berufsunfähigkeit bleibt lediglich ein Viertel des letzten Einkommens übrig. Jüngere Arbeitnehmer, die noch keine fünf Jahre im Beruf stehen, gehen bei den staatlichen Leistungen ganz leer aus.

Vertrauen in gesetzliche Leistungen ist nicht genug

Aber gerade die unter 30-Jährigen - das hat das Marktforschungsinstitut Emnid unlängst im Auftrag der Allianz herausgefunden - lehnen es zum Großteil ab, sich gegen den vorzeitigen Ausfall abzusichern. Nur ein Drittel der jungen Frauen und Männer hat eine solche Police. Die anderen zwei Drittel sind offenbar der Ansicht, dass die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nur die Älteren trifft. Sicher nimmt das Risiko ab einem Alter von 50 Jahren dramatisch zu. Aber auch 6.000 junge Menschen unter 30 werden jährlich von dem harten Schicksalsschlag getroffen. Sie bekommen dann einmal nur wenig Geld wegen ihrer Behinderung, haben aber zum anderen auch nur geringe Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung. Eine Versicherung wirbt deshalb für den Schutz gegen Berufsunfähigkeit mit dem Text: "28 Jahre, Schlipsträger, strammen Schritts, zwei Faxe gesendet, fünf E-Mails empfangen, vier Telefonate erledigt, ein Auto übersehen, erwerbsunfähig." Selbständige und freie Berufe haben in der Regel bei Unfällen und Krankheiten ebenfalls keinen oder kaum einen Anspruch. Sie gehören nur selten der gesetzlichen Rentenversicherung an. Der Gesetzgeber geht bei diesen Berufsgruppen davon aus, dass die Betroffen willig und in der Lage sind, selbst für ihre Zukunft vorzusorgen. Privater Schutz ist also dringend nötig und auch erschwinglich. Schon mit Monatsbeiträgen von 120 bis 125 Mark kann sich ein 30-jähriger Nichtraucher in der Kombination Risikolebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatz eine Monatsrente von 3.000 Mark einkaufen. Dafür gibt es aber im Falle eines vorzeitigen Todes nur 10.000 Mark Einmalleistung. Dieses Angebot machen unter anderem die Nürnberger Beamten Allgemeine Versicherung, die Pax Schweizerische Lebensversicherung, die Nürnberger und der Volkswohlbund. Die gleichen 3.000 Mark Monatsrente, aber garantierte Summen von 36.000 bis 75.000 Mark im Todesfall, kosten bei der Alten Leipziger, Gerling Equity & Life sowie der Futura zwischen 131 und 141 Mark im Monat.

Versicherungen: einzeln oder im Doppelpack

Die Versicherung gegen Berufsunfähigkeit ist als Einzelpolice oder im Doppelpack in Verbindung mit einer Lebensversicherung zu haben. Am besten wird sie mit einer Risiko-Lebensversicherung kombiniert, die für den Todesfall nur einen Minimalschutz bietet. Das ist die preiswerteste Lösung. Im Paket ist dann der Schutz gegen Berufsunfähigkeit oft sogar billiger als die einzelne Police.

Die Bedingungen haben viele Versicherungen in den letzten Monaten spürbar verbessert. Sie haben die Versicherungen für den eigenen Außendienst attraktiver gemacht, haben aber auch auf den Druck des Marktes und der Versicherungsmakler reagiert. Michael Franke, der mit seiner Firma Franke Versicherungskonzepte in Hannover den Markt sorgfältig beobachtet, zieht dieses Fazit: "Waren es früher einige wenige Klauseln, die verbessert wurden, werben die Unternehmen heute mit teilweise bis zu 50 Verbesserungen gegenüber dem Standard."

Ein Knackpunkt sind vor allem die Verweisungsklauseln. Gute Versicherer verzichten auf die so genannte abstrakte Verweisung, die es ihnen erlaubt, betroffene Kunden auf andere Berufe zu verweisen, die sie auch mit ihrem Handicap noch ausüben können. Die entsprechende Passage in den Versicherungsbedingungen sollte auf eine Verweisung nach "Ausbildung und Erfahrung", nicht aber nach "Kenntnissen und Fähigkeiten" hinauslaufen. Andere markante Verbesserungen sind eine Erweiterung des Begriffs der Berufsunfähigkeit, ein früherer Beginn der Rentenzahlung und der Verzicht auf Kündigungsrecht oder höhere Beiträge, wenn sich nachträglich unwissentlich falsche Angaben über den Gesundheitszustand des Versicherten herausstellen. Viele Versicherungsgesellschaften, die bei dem letzten Rating noch schlecht abgeschnitten haben, sind inzwischen dabei, ihre Bedingungen ebenfalls der neuen Lage anzupassen.

Die Ursachen

Als Ursache für Berufs- und Erwerbsunfähigkeit stehen dem VDR zufolge mit 35 Prozent Rheuma, Wirbelsäulen- und Knochenleiden an erster Stelle. Es folgen mit 22 Prozent Herz-, Kreislauf- und Gefäßkrankheiten. Dann folgen bereits mit 15 Prozent die Nervenleiden und Geisteskrankheiten. 13 Prozent entfallen auf die inneren Organe und Diabetes, und nur jedes zehnte vorzeitige Ausscheiden aus dem Berufsleben ist auf einen Unfall zurückzuführen. Die restlichen fünf Prozent entfallen auf sonstige Krankheiten.

Eine bemerkenswerte Verschiebung bei den Ursachen für die Berufsunfähigkeit gab es in den letzten Jahren zwischen Körper und Seele. Während der Anteil der Herz- und Kreislaufprobleme ständig abnimmt, wird die Psyche als Ursache immer bestimmender. Es sind fast perfekt gegenläufige Entwicklungen. Den Anteil, den 1993 Herz und Kreislauf hatten, haben heute Nerven und Psyche. Besonders Frauen leiden darunter.

Die Bedrohung, vorzeitig aus dem Beruf aussteigen zu müssen, ist also allgegenwärtig. Die trotzdem zu verzeichnende Abstinenz der meisten Bundesbürger gegen eine privaten Versicherungsschutz veranlasst Fachleute aus der Assekuranz zum Kopfschütteln. Um ihr Auto gut und preisgünstig zu versichern - so argumentieren sie - wenden die Deutschen viel Zeit und Geld auf. Dafür wird ein viel wertvolleres Gut, nämlich die eigene Arbeitskraft, beim Versicherungsschutz sträflich vernachlässigt. (pw)

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