Wenn Introvertierte auf Extrovertierte stoßen

Ein Plädoyer für die leise Form des Diskutierens



Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.
Wie stille Menschen in Diskussionen ihre Stärken wirkungsvoll einsetzen können, sagt Chris Wolf.

Sind Sie eher introvertiert? Dann könnten Sie die Überschrift so verstehen, dass es ganz nett wäre, wenn ein Beitrag in einer Diskussion auch irgendwann enden würde. Oder sind Sie eher extravertiert? Dann könnten Sie auch interpretieren, dass gemeint ist, dass man in einer Diskussion punkten soll, indem man ein Argument erfolgreich einsetzt! Typisch, dass leise und laute Menschen Diskutieren unterschiedlich verstehen!

Bei der lauten Variante der Diskussion folgt Gegenargument auf Argument. Die Diskussion wird schnell dynamischer und emotionsgeladener. Es geht eindeutig darum, zu punkten.
Bei der lauten Variante der Diskussion folgt Gegenargument auf Argument. Die Diskussion wird schnell dynamischer und emotionsgeladener. Es geht eindeutig darum, zu punkten.
Foto: Robert Kneschke - Fotolia.com

Übliche Diskussionen erweisen sich für leise Menschen oft als etwas anstrengend. Einerseits greifen sie meist erst spät in Diskussionen ein und andererseits leiden sie manchmal unter dem Verlauf von Diskussionen. Dadurch sinken auch die "Erfolgsaussichten", die man als leiser Mensch in der Diskussion hat. Vielleicht begreift man als leiser Mensch die Diskussion aber auch weniger als "Kampf", in dem man Erfolg haben müsste.

Kennen Sie das? Man denkt, es sei Diskussion geplant, und es stellt sich alsbald heraus, dass der Austausch von Grandiositätsphantasien und Profilierungsbeiträgen stattfindet und dass "gepunktet" wird wie beim Ballsport. Die Tätigkeit des Diskutierens kann man ganz unterschiedlich verstehen, und Diskussionen zwischen leisen und lauten Menschen sind häufig ebenso wenig angenehm wie zielführend für die Beteiligten, vor allem für die Leisen!

Was ist eine Diskussion?

Was genau ist denn eine Diskussion? In Wikipedia erfährt man: Eine Diskussion ist ein Gespräch (auch Dialog) zwischen zwei oder mehreren Personen (Diskutanten), in dem ein bestimmtes Thema untersucht (diskutiert) wird, wobei jede Seite ihre Argumente vorträgt. Als solche ist sie Teil zwischenmenschlicher Kommunikation. Das Wort Diskussion stammt vom lat. Substantiv discussio "Untersuchung, [...] Prüfung" ab. Das Verb dazu heißt discutere und bedeutet "eine Sache diskutieren = untersuchen, erörtern, besprechend erwägen".

Diese Definition endet an der Stelle, an der die Argumente vorgetragen sind. Jedoch endet an der Stelle auch die Diskussion? Das ist ja meistens nicht der Fall!

Ich muss an dieser Stelle spontan an eine Diskussion denken, die ich vor vielen Jahren im Rahmen einer Auswahltagung zur Vergabe von Stipendien führen sollte. Ich nehme es gleich vorweg: Das Stipendium habe ich nicht bekommen und dieses Ergebnis verwunderte mich auch nicht.

Beispiel Gruppendiskussion

In einer Gruppendiskussion ging es um die Frage, warum man sein jeweiliges Studienfach gewählt habe. Meine Wahl (Psychologie) wurde recht abwertend kommentiert und auf meine Begründung, ich fände die Disziplin interessant, könne mir eine Arbeit darin vorstellen und wolle ohnehin zunächst einfach schauen, ob es das richtige sei, bekam ich aggressive und wenig wertschätzende Kommentare. Deren Essenz bestand darin, dass dies kein Fach sein, mit dem man Karriere machen könne. Ich habe dazu wenig gesagt und diese Kommentare erwogen und für meine Wahl bewertet und auch darüber nachgedacht, inwieweit "Karriere machen" mein Ziel sei. Das entspräche der Wortbedeutung der "discussio", wie weiter oben aufgeführt.

Dies wurde mir dann jedoch in der Auswertung der Diskussion vorgeworfen, ich habe meinem Standpunkt nicht deutlich genug verteidigt! Das erscheint mir heute rückblickend als die typische Sichtweise eines Extravertierten, eines kämpferischen Diskutanten. Ich hatte hingegen einfach meine Sichtweise erklärt und war nun damit befasst, über die Argumente der Gegenseite nachzudenken. Dagegen zu wettern fand und finde ich nicht besonders zielführend, da es vollkommen klar ist, dass ich die andere Seite nie würde überzeugen können. Und was sollte das auch nützen? Es ging ja lediglich um meine eigene Entscheidung.

Zwei Arten des Diskutierens

Man kann tatsächlich zwei Arten des Diskutierens unterschieden: Die offensichtlich laute Variante nutzt kräftig symmetrische Eskalationen.

Dabei folgt Gegenargument auf Argument und die Diskussion wird schnell dynamischer, emotionsgeladener und es geht eindeutig darum, zu punkten! Ungünstig ist, dass schon sehr bald kein Zuhören und Erwägen der Argumente der Gegenseite möglich ist, stattdessen wird, bildlich gesprochen, der größte Teil der Energie und Aufmerksamkeit aufs "Nachladen", das schlagkräftige Formulieren von Gegenargumenten verwendet. Damit ist das Ziel, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, das "Recht haben", "Recht bekommen" oder auch das "Rechtfertigen".

Ein entscheidender Nachteil dieser Art des Diskutierens liegt in der Emotionalität. Die aggressive emotionale Energie ist meist nicht beziehungsförderlich und in der Regel gibt es da, wo eine Partei gewinnen will, eben auch einen Verlierer. Bei Diskussionen, die stark durch symmetrische Eskalationen geprägt sind, hat man meist so viele Verlierer wie Diskutanten. Ich behaupte, dass jeder ein wenig verliert, da solche Eskalationen selten komplett ohne Verletzungen und Kränkungen auskommen.

Ich erinnere mich an ein Seminar zu Studienzeiten, in das ich vom Seminarleiter, einem Freund, eigens "undercover" gebeten wurde, um ein bisschen Schwung in die Diskussion zu bringen! Dies gelang bestens, ich trug bei zu einer heißen und spannungsgeladenen Sitzung. Die Freundschaft zum Seminarleiter erholte sich davon trotz seines ausdrücklichen Auftrages jedoch nur allmählich … obwohl er nicht einmal aktiv "gegen" mich diskutiert hatte.

Das war für mich sehr eindrucksvoll. Diese Art der Diskussionen wird von jeher in Debattierclubs gepflegt und man findet sie prototypisch in Talkshows. Indem man beginnend am späten Abend systematisch die Sendezeit Richtung früher Nachmittag reduziert, kann man natürlich nur zu Studienzwecken die emotionale Aufladung, den Kränkungsgehalt und die mangelnde intellektuelle Qualität steigern.

Der Versuch, zu verstehen, was der andere sagt

Die leise Variante, wie ich sie hier einmal nennen will, versucht zu verstehen, was der andere sagen will, was er denkt. Sie geht davon aus, dass man die eigenen Argumente ja ohnehin kennt und dass es dadurch vollkommen ausreicht, sie ein- bis zweimal verständlich darzubieten und es der Verantwortung des Gegenübers zu überlassen, dazu eine Position zu finden und die Argumente zu verstehen. Hier wird eben gerne einmal ein Punkt gemacht. Stattdessen erscheint es spannend, die Sicht der Gegenseite zu eruieren und abzuwägen und herauszufinden, was man nun daraus folgern könne. So tritt Selbstdarstellung und "Gegockel" und eben auch Verletzungsgefahr deutlich in den Hintergrund. Gleichzeitig nimmt die Ergebnisorientierung zu, wenn man ab und zu einen Punkt macht. Beispiele für diese Art des Diskutierens sind bezeichnenderweise deutlich schwieriger zu finden.

Es ist plausibel, dass diese beiden Diskussionsarten mit der Präferenz für Intro- bzw. Extraversion zusammenhängen, wenngleich dies natürlich nicht der Fall sein muss.

Was passiert nun, wenn die beiden Arten, wenn leise und laute Diskutanten aufeinandertreffen? Die Leisen werden einigermaßen frustriert nicht nur "verlieren" in einer Gesprächsform, die für sie gar nichts mit Gewinnen und Verlieren zu tun hat. Sie werden darüber hinaus gezwungen sein, den Wortschwall des anderen zu ertragen mit dem Ziel, die Sicht des Leisen abzuwerten. Das ist keine angenehme und schon gar keine zielführenden Situation. Auf der anderen Seite werden die Lauten recht leichtes "Spiel" haben, wenig von dem aufnehmen, was die Leisen möglicherweise zu sagen hätten und leicht aus ihrer Sicht punkten können.

Gleiche Spielregeln helfen

Es ist ungünstig, wenn Beteiligte unterschiedlichen Spielregeln folgen. Im Sinne einer ergebnisorientierten Auseinandersetzung helfen hier nur eine klare Moderation und möglicherweise das Sichtbarmachen der unterschiedlichen Stile. Interessanterweise tuen sich die lauten Diskussionspartner meiner bescheidenen Erfahrung nach deutlich schwerer, die Struktur ihres Tuns zu reflektieren. Dadurch helfen manchmal einfach nur Regeln und deren Durchsetzung durch den Moderator.

Für uns Introvertierte wäre es so schön, wenn es mehr von unseren "Punkten" gäbe in Diskussionen.

Weitere Infos: Chris Wolf arbeitet als Diplom-Psychologin seit über 15 Jahren in den Bereichen Beratung und Training. Sie ist Autorin des Buchs Überzeugend leise! Wie stille Menschen ihre Stärken wirkungsvoll nutzen, BusinessVillage 2013, ISBN: 978-3-869802-40-4, 24,80 Euro.
Details unter www.businessvillage.de/presse-924

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