Finanzierung: das brisanteste Thema des Jahres 2003

06.02.2003

Das Thema Finanzierung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eines der meist diskutierten Themen des Jahres in unserer Branche und ist sicherlich eine der größten Herausforderungen, der wir uns alle stellen müssen. Seine Brisanz führt uns der traurige Rekord des vergangenen Jahres vor Augen, als wir die höchste Insolvenzrate im deutschen Fachhandel seit der Nachkriegszeit zu verzeichnen hatten. Die immer vornehmere Zurückhaltung von Banken und Kreditversicherern, sich in unserer Branche zu engagieren, macht deutlich, dass wir gefordert sind, mit Hochdruck neue, praktikable Finanzierungsmodelle und finanzierungsnahe Dienstleistungen zu erarbeiten.

Wenn auch noch nicht alle Inhalte im Detail geklärt sind, ist eines bereits sicher: Basel II tritt 2006 in Kraft. Schon heute wenden aber zahlreiche Kreditinstitute die neuen Bewertungskriterien für Ratings an. Höchste Priorität für die Beurteilung von Unternehmen haben dabei messbare Größen wie Cashflow, Rentabilitäts- und Verschuldungskennzahlen. Auch Standortfaktoren, die Leistungsfähigkeit von Prozessen, die Organisationsstruktur sowie die Mitarbeiterführung finden als Kriterien Eingang in das Rating. In Zukunft wird ebenfalls bewertet, ob ein Unternehmen über ein funktionierendes Controlling und Risiko-Management sowie eine finanzwirtschaftliche Steuerung verfügt. Das alles sind Kriterien, die zweifellos für die Beurteilung der wirtschaftlichen Fähigkeit eines Unternehmens, seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können, bedeutend sind. Das wichtigste Kriterium im Rating ist aber nach den Erkenntnissen in allen Bankengruppen die Eigenkapitalausstattung - je höher das Eigenkapital, desto geringer ist statistisch das existenzielle Risiko. Parallel mit der Zunahme der Bewertungskriterien nimmt der Faktor "Mensch" beim Bonitätsurteil immer weiter ab: Hatte bisher das persönliche Urteil des Kreditsachbearbeiters oder Geschäftsstellenleiters einen wichtigen Stellenwert, gilt in Zukunft nur noch die Auswertung der einzelnen Kriterien nach einem mathematisch-statistischen System.

Der Wegfall der subjektiven Urteilsbildung durch Kundenbetreuer bietet aber auch Chancen. Im Unterschied zu anderen Ländern sind im deutschsprachigen Raum unabhängige Ratingagenturen erst vor wenigen Jahren entstanden, und gerade kleinere und mittlere Unternehmen sind den bankinternen Ratingsystemen ausgeliefert. Mit standardisierten Kriterienkatalogen werden externe computergestützte Ratingsysteme kostengünstiger und nicht nur für Großkonzerne erschwinglich.

Sicherlich kann die Distribution nicht die Rolle eines Kreditversicherers oder einer Bank übernehmen. Dennoch sehen wir uns in der Verantwortung unseren Geschäftspartnern gegenüber. Aus diesem Grund arbeiten wir derzeit sehr intensiv an Modellen, die es unseren Kunden, vor allem den Systemhäusern und Systemintegratoren, ermöglichen, Projekte oder ähnliche große Aufträge mit längerfristigen Zahlungszielen zu realisieren, ohne in die Finanzierungsproblematik durch Basel II zu geraten. Gleichzeitig sehen wir es aber auch als unsere Aufgabe, den Fachhandel auf seine Eigenverantwortung hinzuweisen.

So kann man in Bezug auf Basel II nur jedem Unternehmen raten, sich rasch und eingehend mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und die Strukturen für die relevanten Messdaten aufzubauen beziehungsweise Informationen ratingfähig aufzubereiten. Denn meist genügte den Banken im vergangenen Jahr bereits der Hinweis auf eine mangelnde Eigenkapitaldecke des Unternehmens, um ihre weitere Unterstützung zu versagen. So lange die Steuersysteme kleineren und mittleren Unternehmen erhebliche Anreize bieten, Gewinne möglichst dem Unternehmen zu entziehen, sollte durch andere Maßnahmen die Eigenkapitalquote erhöht werden.

Neben dem Eigenkapital hat sich das Geschäftsmodell eines Unternehmens bei der Beurteilung der Risikofaktoren und der Ertragskraft als Schlüsselkriterium herauskristallisiert. So hat es sich beispielsweise gezeigt, dass Händler mit einem hohen Dienstleistungsanteil am Umsatz konjunkturellen Schwankungen weniger stark ausgesetzt sind als Händler, die sich rein auf das Produktgeschäft konzentrieren. Mit dem Ertrag aus langfristigen Serviceverträgen lässt sich so manches Umsatzdefizit im Produktbereich ausgleichen. Dennoch bleibt das Produktgeschäft für den Fachhandel beim Endkunden der "Türöffner", auch für attraktive Serviceverträge. Es muss jedoch durch den Fachhandel in Zukunft effizienter abgewickelt werden.

Die Minimierung des Abwertungsrisikos sowie die Optimierung der Kapitalbindung und der Distributionskosten eröffnen die größten Verbesserungspotenziale. Auch dabei unterstützt die Distribution: Sortimentsbreite und -tiefe ermöglichen dem Handel, weitestgehend auf eigene Lagerhaltung zu verzichten und Produkte zu marktaktuellen Konditionen einzukaufen. Die Auslieferung der Ware direkt zum Endkunden im Namen des Händlers hilft ihm ebenfalls, Kosten zu sparen.

Trotz aller Probleme, die möglicherweise auf uns zukommen, ist das Thema Finanzierung auch eine echte Chance für die Distribution und den Fachhandel. Die Distribution verfügt über die Kompetenz, qualifizierte Kreditbeurteilungen in unserem Marktumfeld durchzuführen. Unsere Ressourcen und Strukturen im Debitorenbereich sind darauf fokussiert, Außenstände effektiv zu bearbeiten. Gemeinsam können Distribution und Fachhandel Risikoanalysen erstellen, um notwendige Finanzierungsmöglichkeiten auszuloten und den Fremdmittelbedarf durch Dienstleistungen im Forderungsmanagement zu reduzieren. Voraussetzung für eine derartige Zusammenarbeit wäre aber, dass das Vertrauensverhältnis zwischen diesen beiden Handelsstufen eine andere Qualität bekommt.

Wir versuchen, unseren Partnern Hilfe anzubieten, die möglichst unabhängig von den Banken ist. Diese Art von Finanzierungshilfen hängt jedoch stark von unseren Refinanzierungsmöglichkeiten ab (Thema "Working Capital") und inwieweit diese durch die Margen getragen werden können. Hier ziehen wir auch Factoring in Betracht, wobei dessen Grenzen neben der Zinsbelastung darin bestehen, dass Forderungen in der Regel nur gekauft werden, wenn sie mit einer Kreditversicherung abgesichert werden. Eine weitere Möglichkeit bietet sich durch die Wechselfinanzierung. Sie verschafft dem Partner ein längeres Zahlungsziel und der Distribution die Möglichkeit, bei entsprechender Einstufung des Wechselschuldners den Wechsel vor seiner Fälligkeit zu verkaufen. Weitere Möglichkeiten sind noch in der Diskussion.

Karl-Heinz Müller

Chief Financial Officer

Ingram Micro Distribution GmbH

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