Ingram-Chef Janssen: "Wir wollen in Deutschland nicht Nummer 1 werden"

03.06.1998

HAAR BEI MÜNCHEN: Seit der Übernahme von J&W Computer war die Ingram Micro Deutschland GmbH zumeist negativ in den Schlagzeilen. Nachdem sich die Aufregung um Merger, Umstrukturierung und Entlassungen gelegt hatte, meldeten sich vermehrt Händler, die sich über schlechte Erreichbarkeit und chaotische Lieferbedingungen ärgerten. Sven Janssen, Geschäftsführer der Ingram Micro Deutschland GmbH, gibt im Gespräch mit den ComputerPartner-Redakteuren Damian Sicking und Susann Naumann Entwarnung und erklärt, welche Fehler bei der Zusammenführung der beiden Unternehmen gemacht wurden.

? Die Übernahme von J&W durch Ingram Micro liegt jetzt etwa ein halbes Jahr zurück. Zeit für eine Zwischenbilanz. Haben sich die Dinge so entwickelt, wie Sie sich das vorgestellt haben?

JANSSEN: Ehrlich gesagt habe ich es mir ein bißchen einfacher vorgestellt. Schwierig war es vor allem deswegen, weil beide Firmen sowohl von den Produkten und den Kunden als auch von der Firmenkultur her sehr unterschiedlich waren.

? Wo lagen denn die Hauptknackpunkte?

JANSSEN: Es fing schon damit an, daß J&W ein Familienunternehmen und Ingram ein Weltkonzern war. Diese zwei Welten mußte ich zusammenbringen - und das als der Übernommene. Dann mußten wir Mitarbeiter entlassen, was auch sehr schwierig war, weil man viele Leute gar nicht kannte. Was noch schlimmer war: Diese Mitarbeiter haben in den vergangenen Jahren für Ingram sehr gute Arbeit geleistet und hatten absolut keine Schuld, daß es bei Ingram so schlecht ging. Das war einzig und allein Sache des Unternehmens selbst, weil das Management so oft gewechselt hat oder gewechselt wurde. Aber trotzdem mußten wir uns von einigen Mitarbeitern trennen, weil einfach zu viele an Bord waren.

? Wieviel Mitarbeiter hatten Sie damals?

JANSSEN: Wir hatten nach dem Merger etwa 450 Mitarbeiter. Jetzt sind wir etwa 350.

? Was gab es denn noch für Probleme?

JANSSEN: Vor allem sollte sich die Konsolidierung der beiden Firmen nicht ewig hinziehen, sondern schnell über die Bühne gehen. Und so haben wir eben in nur fünf Monaten alles komplett umgestellt. Dabei sind natürlich Fehler gemacht worden. Dennoch: Die Zahlen haben bewiesen, daß wir richtig gehandelt haben. Immerhin haben wir in diesen fünf Monaten auch zwei Monate mit Gewinn gearbeitet, was es noch nie zuvor bei Ingram gegeben hatte. Später sind uns Fehler beim Lagerumzug passiert, so daß wir im Januar große Schwierigkeiten hatten.

? Schwierigkeiten welcher Art?

JANSSEN: Wir hatten sowohl vor dem rechtlichen Zusammenschluß der beiden Firmen im Oktober als auch danach zwei getrennte Lager, was zu riesigen Tumulten geführt hat. Deshalb mußten wir ganz schnell die beiden Läger zusammenführen, was aber auch nicht so einfach ist. Es geht halt leider nicht, daß man mit einem Lagerbestand von zwischen 40 und 50 Millionen Mark in nur vier Tagen umzieht. Wir haben dafür knapp fünf Wochen gebraucht, was ja auch noch relativ schnell ist. Mittlerweile läuft das Lager wieder. Nur im Reparaturbereich gibt es noch ein paar Probleme.

? Was glauben Sie, wie lange es noch dauern wird, bis bei Ingram alles reibungslos läuft?

JANSSEN: Normalerweise geht man bei einem Merger davon aus, daß es etwa zwei Jahre dauert, bis wirklich alles am rechten Platz ist. Es dauert halt einfach eine gewisse Zeit, bis der Mitarbeiterstamm steht, die Produkte integriert sind und all die technischen Dinge laufen. Dennoch gehe ich bei Ingram von nur einem Jahr aus.

? Sie haben es also durch die Maßnahmen, die Sie eben skizziert haben, geschafft, im operativen Bereich schwarze Zahlen zu schreiben?

JANSSEN: Ja, wobei wir in erster Linie den Umsatz gesteigert und die Fixkosten enorm gedrückt haben. So befindet sich jetzt die kaufmännische Zentrale von Ingram Micro hier in München. In Weiterstadt ist der operative Bereich, wie Lager, Customer-Service, Reparatur, Produktion und Sales, angesiedelt.

? Wie zu hören war, haben Sie sich von einigen Lieferanten getrennt beziehungsweise die sich von ihnen.

Wie stellt sich denn die Situation auf der Herstellerseite dar?

JANSSEN: Wir hatten nach dem Zusammenschluß rund 350 Lieferanten. Darunter waren viele, mit denen wir kaum Umsätze gemacht haben. Deshalb ist es richtig, daß wir uns von einigen getrennt haben. Natürlich war das für viele Leute schwer nachzuvollziehen, weil wir uns ja als Broadliner verstehen. Aber was nutzt mir der Broadliner, wenn ich jeden Monat zwei Millionen Mark Verluste einfahre? Dann lieber ein Broadliner, der nicht alles hat, dafür aber profitabel ist.

? Welche Zielgröße unter Ihren Lieferanten streben Sie an?

JANSSEN: Wir wollen in jedem Bereich mit dem Stärksten zusammenarbeiten. Nehmen Sie zum Beispiel den Netzwerkbereich. Nach dem Merger hatten wir hier 17 Lieferanten. Jetzt sind es nur noch fünf, und zwar die Key-Player. Oder der Festplattenbereich, in dem wir sechs Hersteller nach dem Zusammenschluß hatten. Jetzt arbeiten wir nur noch mit Seagate und Quantum. Mit allen anderen haben wir die Zusammenarbeit beendet, weil es einfach nichts mehr gebracht hat.

? Wer sind eigentlich die drei stärksten Hersteller, mit denen Ingram hier in Deutschland zusammenarbeitet?

JANSSEN: Hewlett-Packard, Microsoft und Seagate - und zwar in dieser Reihenfolge.

? Wo würden Sie Ihr Unternehmen heute in der Disti-Landschaft einordnen?

JANSSEN: Ich sage meinen Leuten immer wieder: Haltet den Ball flach. Wir sind längst nicht soweit wie eine Computer 2000 oder eine Macrotron. Da braucht sich keiner was vorzumachen. Und das kommuniziere ich auch nach Amerika. Die Firma und die Mitarbeiter brauchen einfach Zeit. Ansonsten gibt es wieder dieselben Probleme wie in den vergangenen fünf Jahren. Wir wollen keine großen Sprüche klopfen, sondern in Ruhe arbeiten. Nur dann kann eine Firma auch erfolgreich sein.

? Wenn heute jemand den Namen Ingram hört, woran soll er dann denken?

JANSSEN: An das, was uns früher so stark gemacht hat: der gute Service für den Kunden. Der Preis ist nicht mehr entscheidend. Mittlerweile kaufen und verkaufen wir alle zum gleichen Preis. Aber der ganze Service drum herum, der muß stimmen. Der Kunde muß, wenn er am Abend bis um sechs Uhr bestellt hat, die Ware am nächsten Tag bekommen.

? Aber bedingt dieser Anspruch in bezug auf Service nicht höhere Kosten? Vor allem auch Personalkosten?

JANSSEN: Natürlich. Aber für den Umsatz, den wir jetzt tätigen, haben wir genügend Leute. Nach dem Zusammenschluß mußten wir etwa 90 Mitarbeiter entlassen. Einige sind auch selbst gegangen, was im übrigen ganz normal ist. Es gab ja schon im Vorfeld immer wieder Gerüchte zu Übernahmen, und ich verstehe auch, wenn die Leute darauf sehr sensibel reagieren und Angst um ihren Job haben. Mittlerweile haben wir eine normale Fluktuation.

? Stellen Sie wieder neue Leute ein?

JANSSEN: Wir stellen gerade im Vertrieb weitere Mitarbeiter ein.

? Sie haben auch Thomas Lehmkuhl wieder geholt, der schon bei J&W für Sie als Vertriebsleiter tätig war. Wie kam es dazu?

JANSSEN: Ich brauchte jemanden, der sich permanent um den Vertrieb kümmert, und zu Thomas Lehmkuhl hatte ich schon bei J&W Vertrauen. Die Jahre, die er für J&W gearbeitet hat, waren die profitabelsten. Später hat er ein Superangebot aus Hamburg bekommen, und unsere Wege haben sich getrennt.

? Wie läuft denn das ehemalige J&W-Geschäft? Gehört die Diamond-Linie immer noch zum strategischen Geschäft?

JANSSEN: Ja. Die Diamond-PCs werden jetzt europaweit von Ingram verkauft und laufen richtig gut. Wir haben im vergangenen Dezember so viele PCs verkauft wie noch niemals zuvor.

? Plant Ingram in Europa weitere Zukäufe?

JANSSEN: Ingram, das ist kein Geheimnis, ist immer an Akquisition interessiert. Aber im Moment ist nichts geplant. Dennoch hat Ingram ein großes Ziel: Sie wollen in jedem Land die Nummer eins und dann doppelt so groß wie die Nummer zwei sein. Das ist zumindest der weltweite Anspruch.

? Für Deutschland trifft das ja wohl kaum zu.

JANSSEN: In Deutschland müssen wir kleinere Brötchen backen. Wir wollen hier nicht die Nummer eins werden. Mein Ziel ist es, beide Firmen zusammenzuführen. Und dann sehen wir weiter.

? Das hört sich ja so an, als ob Sie schon auf gepackten Koffern sitzen?

JANSSEN: Nein, nein. Bitte keine Gerüchte im Markt. Für mich ist diese Aufgabe hier eine Herausforderung.

? Haben Sie denn auch Lust dazu?

JANSSEN: Ja, sonst wäre ich nicht hier.

? Ich möchte trotzdem noch einmal nachfragen. Stellen Sie sich noch auf eine längere Zeit als Geschäftsführer von Ingram Micro ein oder machen Sie das abhängig von irgendwelchen Dingen?

JANSSEN: Das macht, glaube ich, jeder. Dennoch: Der Job ist interessant. Man kann etwas bewegen. Mein Ziel ist es, die Firmen zusammenzuführen und aus den roten Zahlen herauszubringen. Und noch bin ich da, im Gegensatz zu vielen anderen, die ihre Firma verkaufen und am nächsten Tag gehen. Ingram Micro weiß genau, wie wichtig Deutschland ist. Wir sind zwar eigentlich, wenn man sich die Umsätze ansieht, ein ganz kleines Rädchen. Aber in Europa ist Deutschland einfach der führende Markt.

? Sie sprechen es gerade an. Welchen Umsatz haben Sie denn in Deutschland generiert?

JANSSEN: Beide Firmen zusammen haben im vergangenen Jahr eine Milliarde Mark eingenommen. In diesem Jahr wollen wir etwa 20 bis 30 Prozent zulegen und profitabel werden.

? Das heißt, obwohl Sie in einigen Monaten Gewinne erwirtschaftet haben, schreibt Ingram unterm Strich rote Zahlen?

JANSSEN: Dazu darf ich nichts sagen. Aber Ingram weltweit hat gigantische Gewinne gemacht - eine tolle Firma.

? Um so mehr hat es uns überrascht, daß im vergangenen Jahr Ingrams Europa-Chef John Winkelhaus und Vize Martin Blaney das Unternehmen verlassen haben. Normalerweise ist so etwas ein Indiz dafür, daß es irgendwo knirscht.

JANSSEN: John Winkelhaus hat Ingram aus freien Stücken verlassen, und zu Martin Blaney kann und will ich nichts sagen. Nur so viel: Es gab eben nach dem Zusammenschluß zwei Geschäftsführer in Deutschland.

? Sie sprachen gerade davon, beim Umsatz in diesem Jahr um 20 bis 30 Prozent zu wachsen. Wie wollen Sie das schaffen?

JANSSEN: Wir haben durch den Merger kaum Kundenüberlappungen gehabt, und so kommt das Wachstum daher, daß wir in München mehr Produkte aus Frankfurt und umgekehrt verkaufen. Außerdem wollen wir verstärkt den Retail-Markt angehen, der sowohl von J&W als auch von Ingram vernachlässigt wurde.

? Warum ist dieses Marktsegment für Sie so interessant?

JANSSEN: Weil aus diesem Bereich viel Umsatzwachstum kommt.

? Aber auch Gewinn?

JANSSEN: Manche Produkte, wie die Diamond-PCs, können schon einen Gewinn abwerfen. Mit einem Hewlett-Packard-Drucker brauchen wir natürlich nicht in den Retail-Markt gehen, das machen die anderen schon.

? Welche weiteren Produkte wollen Sie im Retail-Kanal plazieren?

JANSSEN: Unsere PCs, die Microsoft- und Toshiba-Produkte.

? Wie beurteilen Sie den Vorstoß von Computer 2000, in Richtung PC-Assemblierung aktiv zu werden?

JANSSEN: Computer 2000 hat das ja schon einmal versucht, und bekanntermaßen ging es in die Hosen. Ich denke, daß zum Beispiel Actebis oder auch wir noch im Vorteil sind, weil wir ein längeres Know-how haben.

? Die Bedeutung der Assemblierer am Markt hat ja eigentlich überhaupt nicht nachgelassen.

JANSSEN: Das stimmt, gilt aber nur in Deutschland. Die Ingram-Geschäftsführer in den anderen Ländern können das gar nicht glauben, was wir hier in Deutschland verkaufen.

? Wie wird sich aus Ihrer Sicht die Distributorenlandschaft in Deutschland entwickeln?

JANSSEN: Die kleineren Distributoren, die nicht gekauft werden oder die nicht die Chance hatten zu verkaufen, werden es in Zukunft ganz schwer haben. Es sei denn, es ist ein Nischendistributor, der sich beispielsweise auf den Netzwerk- oder Server-Bereich spezialisiert hat. Der wird immer ein gutes Geschäft machen. Aber ein Distributor mit einem Umsatz zwischen 50 bis 300 Millionen Mark, der nicht die nötige finanzielle Decke hat, wird es schwer haben. Der Grund dafür ist ganz einfach. Zuerst müssen die Unternehmen Steuern zahlen ohne Ende. Nach der Steuerlast kommen die Banken und fordern die Unternehmen auf, ihr Stammkapital zu erhöhen, weil sonst kein Geld mehr fließt. Es ist wirklich so, daß es die Banken den Firmen ganz schwer machen. Deshalb gibt es ja diese ganze Konzentrationswelle. So war es bei Actebis und auch bei mir. Actebis konnte sein Wachstum nicht mehr finanzieren - und hat verkauft. J&W hätte noch zwei Jahre so weitermachen können. Aber dann habe ich ein Superangebot bekommen - und habe verkauft. Wenn wir heute einen Distributor kaufen würden, dann nur einen Nischendistributor in einem Bereich, in dem wir schlecht sind. Denn all die anderen bringen mir nichts. Und gerade deshalb werden es kleinere Distributoren in Zukunft immer schwerer haben.

? Und wie wird es den großen Distributoren in den nächsten Jahren ergehen?

JANSSEN: Ich glaube, daß die Konzentrationswelle in den nächsten Jahren anhalten wird. Später werden die Firmen wieder aufgesplittet, weil sie zu träge geworden ist. Die Kleinen werden, wie gesagt, keine Chance haben. Früher war das anders. Da war man als kleiner Distributor mit einer geringen Kostenstruktur im Vorteil, weil man billig anbieten konnte. Heute aber braucht ein Händler Zahlungsziele. Wir können einem Kunden ohne Probleme 14 bis 30 Tage geben. Ein kleiner Distributor kann das aber nicht.

? Noch ein Wort zur CeBIT. Im vergangenen Jahr glänzte Ingram durch Abwesenheit. Dieses Jahr gibt es wieder einen Ingram-Stand. Das war doch sicher Ihre Entscheidung.

JANSSEN: Richtig. Für Ingram ist die CeBIT ein Muß, weil wir noch immer einen schlechten Ruf haben. Und daß das nicht stimmt, müssen wir unseren Kunden und Lieferanten zeigen. Gerade in puncto Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit haben wir noch viel, viel Arbeit vor uns.

Sven Janssen, Geschäftsführer der deutschen Ingram Micro: "Wir wollen keine großen Sprüche klopfen, sondern lieber in Ruhe arbeiten."

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