IT-Personalmarkt

03.11.1999

MÜNCHEN: Eine groteske Situation: Während die Schlangen vor bundesdeutschen Arbeitsämtern immer länger werden, während bestimmte Industriezweige ganze Heerscharen von Angestellten in die Arbeitslosigkeit entlassen (müssen), während Jobsuchende nach der hundertsten erfolglosen Bewerbung nahezu jede Hoffnung auf eine neue Anstellung begraben, jagt die IT-Branche jedem Mitarbeiter hinterher, der einen PC auch nur ein- oder ausschalten kann.Ein Ende dieser für Branchenfremde kaum nachvollziehbaren Entwicklung ist nicht in Sicht: Das amerikanische Marktforschungsunternehmen International Data Corporation (IDC) sieht für das Jahr 2002 mehr als 1,6 Millionen (!) offene IT-Stellen in Europa voraus. Schon heute können mehr als 510.000 IT-Arbeitsplätze zwischen Spitzbergen und Palermo nicht besetzt werden, rechnen die Analysten vor und schlagen Alarm. Viele Stellen, die in den letzten Jahren neu geschaffen werden sollten, sind aufgrund des Fachkräftemangels wieder gestrichen worden und verhindern damit das weitere Wachstum der IT-Firmen.

Auf rund 50.000 schätzt Jörg Menno Harms, Chef von Hewlett-Packard in Deutschland und Vorsitzender des Fachverbandes Informationstechnik im Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und Zentralverband Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI), die Zahl der auf diese Weise gar nicht erst entstandenen neuen Arbeitsplätze. "Ich kenne kaum ein Unternehmen der 20.000 Softwarehäuser und IT-Dienstleister in Deutschland, das zur Zeit keine offene Stellen hat", gibt Harms zu

bedenken.

Viele Betriebe mußten denn auch ihren hochgesteckten Expansionspläne wieder in die Schublade legen und sich mit einem bescheideneren Wachstum zufriedengeben als ursprünglich vorgesehen.

Andererseits wurden in nur drei Jahren fast 200.000 neue Stellen geschaffen, zieht der HP-Manager eine positive Bilanz für die Informationswirtschaft, die in Deutschland rund 1,7 Millionen Menschen beschäftigt und somit nach dem öffentlichen Dienst und der Bauwirtschaft der größte Arbeitgeber ist. Betrachtet man den Bedarf an qualifizierten IT-Mitarbeitern in den letzten beiden Jahren, so wird die Alleinstellung der Branche als Jobmaschine allzu deutlich: Fast allerorten hat sich die Nachfrage drastisch erhöht. In der Beratungsbranche sind derzeit rund 34.000 Stellen ausgeschrieben, von denen die meisten wohl unbesetzt bleiben müssen (siehe Grafik).

Angebot übersteigt die Nachfrage

Die Gründe für die Misere auf dem Arbeitsmarkt sind leicht ausgemacht: "Von 11.000 Studienplätzen eines Jahrgangs der Informatik sind nur 6.000 bis 7.000 überhaupt besetzt", weiß Harms zu berichten. Der gegenwärtige Bedarf an Informatikern in Industrie und Verwaltung liegt jedoch bei rund 20.000 pro Jahr. "Das deutsche Bildungssystem wird den Anforderungen der Informationswirtschaft nicht gerecht", zieht der HP-Chef ein niederschmetterndes Resümee, das noch ungleich drastischer hätte ausfallen müssen, wären im Ausbildungsjahr 1997 nicht gleich vier neue IT-Berufe erfolgreich ins Leben gerufen worden. Die neuen Ausbildungsberufe IT-Systemelektroniker, Fachinformatiker, IT-System- sowie Informatikkaufmann verzeichnen einen regen Zulauf: Etwa 4.200 Ausbildungsverträge wurden im ersten Jahr abgeschlossen. 1998 sollen es bereits 8.000 Auszubildende gewesen sein, die sich über mangelnde Zukunftsperspektiven wohl nicht zu beklagen brauchen. Doch bis die Azubis ihre Ausbildung abgeschlossen haben und ins Berufsleben einsteigen, wird sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt nur wenig entspannen.

So schrillen denn auch bei der Bundesanstalt für Arbeit die Alarmglocken lauter denn je zuvor. Erste Maßnahmen zur Entschärfung der Personalkrise wurden bereits getroffen: In diesem Jahr bot die Nürnberger Behörde der Informationsbranche etwa 30.000 Arbeitskräfte an und stellte rund eine Milliarde Mark für die Aus- und Weiterbildung der Arbeitnehmer bereit. Ein erster Schritt, eine sinnvolle Investition, jedoch beileibe nicht ausreichend, um der noch immer steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Der Bundesverband Informations- und Kommunikationssysteme (BVB) in Bad Homburg forderte seine Mitglieder bereits zur Selbsthilfe auf und empfiehlt, Techniker und Vertriebsmitarbeiter in Eigenregie aus- oder fortzubilden.

Gehälter in astronomischen Höhen

Den begehrten IT-Spezialisten dürfte die Hatz auf ihresgleichen nicht allzu ungelegen kommen, können sie doch in Einstellungsgesprächen schier jedes Gehalt fordern - und auch bekommen.

"Berufseinsteiger, die mit einem Jahresgehalt von 75.000 Mark und mehr in die Praxis geraten, in den ersten 18 Monaten noch einmal für knappe 100.000 Mark aus- und weitergebildet werden, fordern nicht selten noch im zweiten oder dritten Beschäftigungsjahr Gehälter von 120.000 Mark. Diese Kandidaten sind dann vielleicht gerade 30 Jahre alt, haben zwei bis drei Jahre Erfahrung gesammelt und stehen im unternehmensinternen Stellenvergleich gegebenenfalls auf derselben Ebene wie der Maschinenbauingenieur, der allerdings mit einem jährlichen Salär von 65.000 Mark in den Gehaltskatalogen steht", zeigt Stefan Rohr, Geschäftsführender Gesellschafter der r&p Management Consulting in Hamburg den neuen Trend auf, der jede Menge sozialen und beschäftigungspolitischen Sprengstoff in sich birgt und das Gehaltsgefüge in den Unternehmen revolutionieren wird. Gehaltsunterschiede innerhalb vergleichbarer Positionen von bis zu 50.000 Mark und mehr sind für die meisten Betriebe nicht realisierbar, ist sich Rohr sicher und rät davon ab, den "hochgeschnellten Gehaltsforderungen generell zu entsprechen". Eine Gratwanderung zwischen vernünftiger Personalpolitik und den Gesetzen des Marktes, der eher einem Auktions- denn einem Personalmarkt gleicht. Nicht selten gelingt es den DV-Freaks, beim Stellenwechsel eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent einzustreichen - oftmals ergänzt durch andere Vergünstigungen wie ein größeres Firmenfahrzeug oder großzügige Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen im In- und Ausland.

Stellenwechsel erzeugen immense Kosten

In einigen Jahren jedoch, wenn die derzeitige Goldgräberstimmung im IT-Sektor der Normalität gewichen sein wird, wenn Euro- und Jahr-2000-Umstellung durchgeführt wurden, wenn die meisten Betriebe die Umstrukturierungen und Anpassungen ihrer Datenverarbeitung weitestgehend vollzogen haben, wird sich so mancher IT-Spezialist von liebgewonnen Besitzständen verabschieden und einer neuen, rauheren Situation stellen müssen, sind sich viele Marktbeobachter einig. Viele Programmierer und DV-Freaks, die zuvor geradezu fürstlich entlohnt wurden, werden wohl auf der Straße stehen oder sich mit bescheideneren Angeboten auseinandersetzen müssen. Doch bis dato wird der Poker um Gehalt, Firmenfahrzeug, Arbeitsplatzausstattung und Arbeitsbedingungen die Personalchefs in den Betrieben nicht zur Ruhe kommen lassen.

Ordentliche Entlohnung, eine angenehme Arbeitsatmosphäre, die Übertragung von Verantwortung und interessante Karrieremöglichkeiten und Weiterbildungsangebote sind sicherlich probate Mittel, die Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden - ein Garant für das Verbleiben im Betrieb sind sie jedoch nicht. Immer mehr Arbeitnehmer aus dem IT- und Telekommunikationssektor sind denn auch bereit, bei einem guten Angebot die Stelle zu wechseln. So liegt die Quote der "Jobhopper" bei Consulting-Unternehmen bei derzeit rund 15 Prozent im Jahr. Die hohe Fluktuation fordert einen erheblichen Tribut und verursacht immense Kosten: Die Gartner Group rechnet neben den Ausgaben für Anzeigen etwa 30 bis 35 Prozent des Bruttogehalts für sonstige Aufwendungen, von der Entlohnung der Personalberater, der Entrichtung von Bewerbungskosten bis hin zur teuren und zeitaufwendigen Einarbeitung. Den Verlust der Produktivität geben die Marktforscher mit 50 Prozent an, der jedoch gerade im Projektgeschäft erheblich höher ausfallen dürfte.

Wechsler gelten als flexibel

Die Abwanderung von hochqualifizierten Mitarbeitern bedeutet für das betroffene Unternehmen immer einen Verlust an Know how, das nicht nur dem neuen Arbeitgeber des Abgängers - sprich: Mitbewerber - zugute kommt, sondern auch manchen Projektzeitplan kräftig durcheinanderwirbelt. Die Folgen: Beeinträchtigung der Kundenbeziehung, Mehrarbeit für die verbliebenen Projektmitarbeiter und verspäteter Projektabschluß, der wiederum zu einer verzögerten Zahlung des Kunden führt und die oftmals ohnehin geringe Liquidität der Unternehmen belastet. Zudem sind viele Kunden ob der ständig wechselnden Ansprechpartner verärgert.

Die neue Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer ist bei vielen Personalchefs nicht mehr im gleichen Maße geächtet wie noch vor einigen Jahren. Waren häufige Stellenwechsel früher ein Indiz für Unstetigkeit und wurden zum K.-o.-Kriterium beim Bewerbungsgespräch, so wertet mancher Personalmanager dies als Zeichen großer Flexibilität und verbucht es als Erfahrungsschatz des Kandidaten eher auf der Habenseite.

Goldene Zeiten für Personalberater

Gewinner des personellen Notstandes sind neben abwanderungswilligen IT-Gurus derzeit vor allem Personalberater. Nach der soundsovielten erfolglosen Anzeigenkampagne greifen immer mehr frustrierte Personalreferenten auf die Dienste der Headhunter zurück oder machen gar die eigenen Mitarbeiter zu "Kopfgeldjägern". Die erfolgreiche Suche im Bekanntenkreis - "ich kenne einen, der einen kennt, und dessen Freund ...." - lassen sich manche Firmen bis zu 5.000 Mark kosten. Doch für die Profis wie auch die Amateure aus den eigenen Reihen tun sich alsbald Grenzen auf - der Markt ist leergefegt. (uk)

HP-Chef Harms "Es gibt kaum ein IT-Unternehmen, das zur Zeit keine offenen Stellen hat."

Stefan Rohr, geschäftsführender Gesellschafter der r&p Management Consulting, rät zur Vorsicht beim Gehaltspoker: "Hochgeschnellten

Gehaltsforderungen sollte nicht generell entsprochen werden."

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