Marketing-Kannibalismus - oder wie man engagierte Fachhändler verprellt

20.09.1996
MÜNCHEN: Wenn ein Hersteller ein innovatives Produkt auf den Markt bringt, dann versucht er in der Regel, seine Vertriebspartner mit dem Hinweis auf die noch fetten Margen und die hervorragenden Marktchancen mit ins Boot zu holen. Daß die Rechnung für die Händler nicht immer aufgeht, zeigt dieser Erfahrungsbericht eines norddeutschen IBM-Geschäftspartners, der aus Furcht vor Repressionen seitens der IBM nicht genannt werden will. Sicher kein Einzelfall.Bevor Sie mit Ihrem PC sprechen, sprechen Sie mit uns!" Ein Slogan, der vielleicht noch so manchen in den Ohren klingt. Die Spracherkennung per PC hat sich durchgesetzt, doch wie lange noch?

MÜNCHEN: Wenn ein Hersteller ein innovatives Produkt auf den Markt bringt, dann versucht er in der Regel, seine Vertriebspartner mit dem Hinweis auf die noch fetten Margen und die hervorragenden Marktchancen mit ins Boot zu holen. Daß die Rechnung für die Händler nicht immer aufgeht, zeigt dieser Erfahrungsbericht eines norddeutschen IBM-Geschäftspartners, der aus Furcht vor Repressionen seitens der IBM nicht genannt werden will. Sicher kein Einzelfall.Bevor Sie mit Ihrem PC sprechen, sprechen Sie mit uns!" Ein Slogan, der vielleicht noch so manchen in den Ohren klingt. Die Spracherkennung per PC hat sich durchgesetzt, doch wie lange noch?

Alles begann Mitte des Jahres 1993. Damals kündigte Big Blue uns Vertragshändlern den Vertrieb einer Spracherkennungs-Software unter dem Namen "DragonDictate-30K Deutsch" an. Entwickelt wurde dieses Produkt von der amerikanischen Firma Dragon Systems, Inc. - und tatsächlich, der Computer hörte aufs Wort! Wenn auch noch etwas holprig und zur großen Windows- und OS/2-Welle leider erstmal nur unter dem Betriebssystem DOS zu haben. Aber immerhin, es war eine kleine Revolution für jeden Anwender, dem das Tippen zuwider war. Entspannt saß man vor dem Bildschirrn und sprach über ein kleines Kopfmikrofon direkt in den PC.

Ein Mediziner aus Reutlingen erklärte sich bereit - weil ihn dieses Produkt so sehr faszinierte - für die IBM bundesweit Vorführungen zu veranstalten. Mit dem Nachfolgeprodukt "DictiMed" konnten dann auch Mediziner ihre manchmal so komplizierten Fachbegriffe einfach und schnell diktieren.

Ohne Starpaket für 10.000 Mark lief nichts

IBM lud alle Vertragshändler zu einer Händlerschulung ein, denn diese war Voraussetzung für die Autorisierung zum Vertrieb von DragonDictate. Aber das war noch nicht alles - jeder Händler, der in den Genuß der Vermarktung von DragonDictate kommen wollte, hatte ein "Startpaket" für 10.000 Mark netto zu kaufen. Ein hübsches Sümmchen, wenn man bedenkt, daß noch kein Markt für Spracherkennungssoftware erschlossen war. Nun ja, so bissen wir doch die Zähne zusammen und installierten unser "Startpaket" auf einem Vorführgerät.

Im Markt wurde ordentlich gerührt. Umfangreiche Mailingaktionen, Telefonakquisitionen und Kundeneinladungen wurden durchgeführt. Leider ließ die versprochene Werbung durch die IBM selbst verdammt lange auf sich warten.

Trotzdem fanden die ersten Vorführtermine statt. Mit viel Fleiß und Mühe verkaufte man auch das eine oder andere Paket - damals noch zu einem Preis von rund 15.000 Mark. Aber die Akzeptanz war gering. Wie sagte der Reutlinger Mediziner so schön? "Es funktioniert, nur glaubt das keiner." Die Interessenten waren fasziniert von dieser Technologie, doch die meisten fanden, das Produkt befände sich wohl noch in den Kinderschuhen. Wahrscheinlich war diese Reaktion auch auf den niedrigen Bekanntheitsgrad von DragonDictate zurückzuführen.

Preise runter: "Wie sag ich's meinem Kunden?"

Anfang 1994 reduzierte sich der Verkaufspreis zur Freude der Neuerwerber und zum Ärger der ersten Versuchskaninchen um sage und schreibe die Hälfte. Auch hier waren die Reaktionen der Interessenten wieder sehr einheitlich: "Wahrscheinlich ist das Produkt so schlecht, daß IBM nun mit dem Preis locken will." Wir Händler hatten nicht nur das Problem, das teure Vorführsystem zu amortisieren, sondern auch die Aufgabe, den Kunden die Preispolitik einigermaßen verständlich zu erklären.

Daß die IBM seit Jahren an einer eigenen Spracherkennung bastelte, war ja bereits seit geraumer Zeit bekannt. Und siehe da, im Mai 1994 erhielten die Vertragshändler die Ankündigung des IBM Personal Dictation Systems (PDS) Version 1.00 (später IBM VoiceType Diktiersystem), ein Spracherkennungssystem für das Betriebssystem IBM OS/2 zu einem Preis von nur noch 2.337 Mark für den ISA-Bus. Toll! Der Markt war ja für die Spracherkennung bereits vorgewärmt. Klar, daß sich ein echter IBM Händler mit IBMs PDS beschäftigen würde.

Voraussetzung für den Vertrieb war wiederum eine Händlerschulung, dessen Kosten wir selbst zu tragen hatten - man ist ja innovativ! Der Support und später auch der Vertrieb von DragonDictate lief ab Mitte 1994 dann nur noch über einen großen süddeutschen Distributor. IBM verfügte ja mittlerweile über ein eigenes Spracherkennungssystem.

Tatsächlich setzte sich IBM VoiceType recht schnell auf dem Markt durch. Durch seine sehr hohe Erkennungsrate und die einzigartige Trigramm-Statistik-Prüfung konnte sich das Produkt gegen den Widersacher DragonDictate schnell behaupten und die Marktakzeptanz stieg. Da waren wir Händler doch froh, als einer der ersten mit dabeigewesen zu sein.

Der Händler spielt den Balljungen

Doch die Dragon Systems Inc., nicht dumm, legte uns die Pistole auf die Brust. Wer länger autorisierter DragonDictate-Händler bleiben wollte, mußte eine nicht unbeachtliche Umsatzvorgabe erfüllen. Der zweite Dämpfer war schließlich die Vertriebsfreigabe der Windows-Version von DragonDictate. Darauf hatten doch die meisten gewartet!

Eine Atmosphäre wie auf einem Tennisplatz - auf der einen Seite IBM, auf der anderen Dragon. Und der Händler spielt den Balljungen. Erst nach der CeBIT 1995 war dann endlich auch die IBM-VoiceType-Version für Windows verfügbar - Preis für ISA-Bus: 2.645 Mark.

IBM wies uns Händler ausdrücklich darauf hin, möglichst im "Bundle" zu verkaufen, das heißt immer ein Komplettpaket inklusive Software und Spracherkennungsadapter anzubieten, um den Raubkopierern das Handwerk zu legen. Daß sich mit den mittlerweile stark reduzierten Preisen keine großartigen Margen mehr erzielen ließen, versteht sich von selbst. Einige Händler boten sogar unter Listenpreis an. Dazu die IBM wörtlich: "Mit Erstaunen sehen wir immer wieder Werbung vereinzelter Händler, in der IBM VoiceType von vornherein mit Nachlaß angeboten wird! Überprüfen Sie doch bitte - falls es Sie betrifft - nochmals Ihre Vorgehensweise. Wir halten es für wenig sinnvoll, wenn bei diesem "Niedrigpreis-Produkt" ein Preiskampf entfacht wird, der zu Lasten unserer engagierten Geschäftspartner geht." Immerhin!

Sag mir, wo die Margen sind, wo sind sie geblieben?

Zum Glück ist IBM VoiceType sehr dienstleistungsintensiv. Damit, und nur damit konnten wir Vertragspartner im Schweiße unseres Angesichts überhaupt Geld verdienen. Wir begleiteten den Kunden bei der Installation, beim Training der Spracherkennung und verrieten ihm Tips & Tricks, wie er die Spracherkennung am effektivsten für sich anwenden könnte. Alle Erfahrungswerte, die in den Jahren gesammelt worden waren, haben wir gewissenhaft weitergegeben. Von Hard- und Softwareproblemen, die gelöst werden mußten, ganz zu schweigen. Ein "Niedrigpreis-Produkt" mit Niveau also.

Inzwischen hatte Dragon Systems einigen Händlern die Vertriebsautorisierung entzogen. Man kann ja nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.

IBM bat uns immer wieder um Mithilfe und um Zusendung der Adressen guter Referenzkunden sowie um "spezielle Lösungen", die mit IBM VoiceType realisiert wurden.

Im Mai dieses Jahres gab es dann erneut ein Händlertreffen zwecks Ankündigung und Präsentation der neuen IBM VoiceType Version 3.0, lauffähig nur unter Windows 95! Viele beachtliche Neuerungen sollte dieses Produkt beinhalten - für nur noch rund 1.500 Mark!

Kein Tanz auf zwei Hochzeiten

Doch was ist das? Die Version läuft mit fast allen SoundBlaster-kompatiblen Soundkarten? Das heißt, Herr Dr. Müller-Lüdenscheid könnte seine CD ja mal eben seinem Kollegen borgen? Wie war das mit dem "Bundleverkauf"? Und die alten Spracherkennungsadapter sollten vorsichtshalber erst einmal nicht von der neuen Version unterstützt werden, geschweige denn, daß die Sprachfiles eines VoiceType-Anwenders der Version 1.x bei einem Update auf die neue Version 3.0 komplett übernommen werden konnten. Was tut IBM den Kunden und uns da nur an?

Ja, und hat die IBM denn überhaupt kein Vertrauen mehr in ihr eigenes Betriebssystem OS/2? Doch, doch! Mit Erscheinen der neuen Version IBM OS/2 Merlin soll auch die neue Version IBM VoiceType für OS/2 ausgeliefert werden, sozusagen im Bonus-Pack. Na prima, dann steht dem unkontrollierten Verschleudern eines schulungsintensiven Produktes ja nichts mehr im Wege. Und nachdem der Anwender ungeschult und genervt sein Handbuch in die Ecke schmeißt, wird er mit Freude verbreiten, wie schlecht dieses Produkt ist.

Im Mai 1996 wurden die eifrigsten und vor allem umsatzstärksten Vertragshändler zum "IBM SW Member Speech" ernannt - insgesamt 14 Händler bundesweit. Und IBM versprach, daß kein Distributor soviel Prozente auf den Listenpreis bekomme wie diese 14 Händler! Welch eine Ehre! Dann sind wir eine große Familie und keiner braucht, um an das Zitat von IBM zu erinnern, von vornherein dieses "Niedrigpreis-Produkt" mit Nachlaß anzubieten. Aber Moment, was steht da auf diesem Fax einer unserer größten Distributoren aus Süddeutschland? "NEU!!! VoiceType 3.0 für W95 - Spracherkennungssoftware - DM 999,-/Stück."

Danke IBM, daß wir dabei sein durften!

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