Mehr Demut wagen

21.08.2003

Eine Hiobsbotschaft jagt die andere: Pleitenwelle, Bildungsmisere, Arbeitslosigkeit, Rezession, Reformstau, Parteiengezänk. Deutschland pfeift aus allen Löchern, selbst hartgesottenen Optimisten wird die Milch der frommen Denkungsart sauer, Missmut und Verzagtheit haben Konjunktur.

So weit, so schlecht. Die Zeiten sind beileibe nicht rosig. Trotzdem: So richtig mitjammern kann ich nicht. Ich muss dann immer an meine Zeit in Moskau denken. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass es mich dorthin verschlagen hatte. Was ich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vorfand, war ein Scherbenhaufen: Armut, Menschen in Lumpen, Gewalt allenthalben, die Staatsmacht zerbrochen, das Land am Boden. Überall Chaos. Mittendrin ich, von einem Weltkonzern ausgeschickt, um neue Märkte zu erschließen und ganz Osteuropa aufzumischen. Den Iwans zeigen, wo der Bartel den Most holt? Kein Problem für ein berstendes Manager-Ego, den Wessi-Überflieger und Wohlstandsgesandten!

Am Ende kam alles ganz anders. Moskaus Menschen haben meinem Hochmut die Luft abgelassen, jeden Tag ein bisschen mehr. Wo es langgeht im Leben, habe ich nicht zuletzt von unseren Sekretärinnen gelernt. Sie greinten ihren akademischen Graden, Titeln, Diplomen keine Träne nach. Niemand war sich zu schade, Maß am Machbaren zu nehmen. Voller Lebensmut, Würde und Improvisationstalent haben sie angepackt. Im Job und nach Feierabend, wenn ihr zweiter Arbeitstag begann. Das hieß konkret: Weiterbildung, einkaufen, kochen, Haushalt, Mann und Kinder versorgen.

Ich weiß, wie seltsam das Wörtchen Demut klingt. In Moskau habe ich es neu entdeckt und schätzen gelernt. Nicht als Frömmlerfloskel, sondern als praktisches Lebensrezept: Nimm dich nicht immer so wichtig, blas dich nicht so auf.

Ich will die Not nicht verklären. Nichts wäre verlogener, kaum etwas dümmer. Russland war und ist kein Paradies. Dennoch sitzt die Lektion. Das Quäntchen Demut fehlt mir in Deutschland, wo viele den Status quo für sakrosankt, Starrsinn für Charakterstärke und Egoismus für den Gipfel menschlicher Vollendung halten.

Thomas Heyn ist Geschäftsführer der Jack Russell Consulting GmbH in München.

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