"Nur zehn Prozent unserer Mitglieder fühlen sich vom E-Commerce bedroht"

10.12.2000
Über die aktuelle Situation des deutschen Einzelhandels und seine Perspektiven sprach ComputerPartner-Redakteurin Silvia Lautz mit Robert Weitz, Chefvolkswirt beim Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE), und dessen Kollegen Wilfried Malcher, HDE-Bildungsbeauftragter.

Was sind gegenwärtig die größten Probleme im Handel?

Weitz: Wir sind immer noch nicht bei den Umsatzentwicklungen, die wir uns nach sieben mageren Jahren wünschen. Wir können außerdem nur noch über den Preis verkaufen. Ansonsten ist die Entwicklung gar nicht so übel. Im vorigen Jahr hatten wir noch das Problem mit den 630-Mark-Kräften. Hier scheint es sich ein bisschen entspannt zu haben. Jetzt fordern Arbeitsminister und Gewerkschaften das Recht auf Teilzeitarbeit, letztlich eine Vorstufe für das Recht auf Arbeit. Dann wollen die Gewerkschaften Betriebs-räte schon bei Firmen mit nur drei Mitarbeitern. Ansonsten haben wir Strukturprobleme wie der immer stärker wachsende Anteil der Großbetriebe am Gesamtumsatz und rückläufige Anteile der Fachbetriebe. Und zu guter Letzt haben wir da wieder einmal das Thema Ladenschluss.

Welche Regelung halten Sie hinsichtlich des Ladenschlusses denn für angebracht?

Weitz: Ursprünglich war der HDE hier ja sehr skeptisch. Und noch immer sind mehr als 50 Prozent der deutschen Einzelhändler gegen Änderungen des Ladenschlusses - früher waren es allerdings mal 90 Prozent. Man kann heute im Grunde genommen kein Ladenschlussgesetz mehr gebrauchen. Auch haben sich die mit den derzeitigen Öffnungszeiten verbundenen Schreckensszenarien nicht bestätigt. Deshalb meinen wir heute, dass sich jeder für die sechs Werktage in der Woche die Öffnungszeiten aussuchen darf, die er für sein Geschäft als ideal einstuft, während am Sonntag die bisherigen Regelungen gelten.

Sie sprachen das Recht auf Teilzeitarbeit an, das der Arbeits-minister gerade plant. Der Vorschlag wurde schon wieder etwas gemäßigt: Er soll nur für Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern gelten. Dennoch dürfte das für viele Firmen organisatorisch schwierig werden. Wie bewerten Sie diesen Gesetzesvorschlag?

Weitz: Das ist für kleinere oder mittelständige Einzelhandelsbetriebe praktisch undurchführbar. Sie müssten permanent Arbeit teilen und händeringend nach neuen Arbeitskräften suchen. Das ist wieder nur auf Großbetriebe zugeschnitten. Ich halte das für absolut kontraproduktiv. Das ist aber die Allgemeinorientierung der Bundesregierung: Deren entscheidenden Ressorts sind mit Leuten besetzt, die nur Großbetriebe gut kennen.

Stichwort Fachkräftemangel: Analysten gehen davon aus, dass in zwei Jahren die Gründerwelle aufgrund des Mangels an qualifizierten Mitarbeitern abebben wird. Welche Entwicklung sehen Sie hier?

Weitz: Auf den Einzelhandel bezogen sehe ich das Problem eigentlich nicht so stark. Das ist mehr ein Problem im neuen Dienstleis-tungsbereich. Im Einzelhandel verlieren wir immer noch Arbeitskräfte. In den letzten drei Jahren sind jeweils rund 30.000 entlassen worden, entweder wegen Rationalisierungen oder weil die Unternehmen ganz zugemacht haben.

Dennoch herrscht gerade im Computer-Einzelhandel ein Mangel an Fachleuten. Wie können auch kleinere und mittlere Unternehmen der IT-Branche motiviert werden, selber auszubilden?

Malcher: Kleine Unternehmen tun sich immer etwas schwerer, weil für sie der Aufwand sehr hoch ist. Dennoch findet sich die Mehrzahl der Ausbildungsverhältnisse in den neuen IT-Berufen in kleineren und mittleren Unternehmen. Es gibt inzwischen an die 40.000 Ausbildungsverhältnisse in den vier IT-Berufen, und davon sind 70 bis 80 Prozent in kleineren Unternehmen. Und da wiederum weit mehr als die Hälfte in Unternehmen, die früher nie ausgebildet haben. Ich bin sicher, dass es hier noch deutlich mehr Ausbildungsplätze geben wird. Ausbildung kos-tet zwar Geld, aber keine Ausbildung kostet viel mehr.

Kleinunternehmen fehlen auch die Verbandsstrukturen für eine effektive Lobby-Arbeit. Wie können sie dennoch ihre Interessen durchsetzen?

Weitz: Kleinunternehmen können genauso gut wie alle anderen auch in jeden Regionalfachverband eintreten. Allerdings haben sie oft wenig Interesse daran, weil sie für die damit verbundene Arbeit schlichtweg keine Zeit haben.

Wie kann man dieses Problem lösen?

Weitz: Das Problem wird sich in Zukunft mit der modernen Technik leichter lösen lassen, zum Beispiel über Abstimmungen per Internet. Dann könnte es auch für die Kleinen wieder interessant werden, sich im Verband zu engagieren. Heute ist es ja auch ein Problem, dass der Steuerberater häufig empfiehlt, den Mitgliedsbeitrag für den Verband zu sparen.

Apropos Finanzierung: Für viele Unternehmen ist es schwer, Kredite zu bekommen. Gerade Großbanken ziehen sich aus dem Mittelstandsgeschäft zurück. Die Intershop AG beispielsweise musste sich ihre Geldgeber in den USA suchen. Was wäre hier zu tun, um den Aufschwung in der IT-Branche nicht abzuwürgen?

Weitz: Da gibt es viele Möglichkeiten. Zum einen können die Unternehmen öffentliche Mittel in Anspruch nehmen, da fallen sie allerdings nach vier Jahren aus der Förderung heraus. Dann können Firmen über die Bürgschaftsbanken gehen, die für den Kredit, den sie aufgenommen haben, bürgen. Und dann gibt es natürlich noch die Beteiligungsgesellschaften. Prinzipiell ist das in Deutschland noch unterentwickelt, aber das kommt langsam.

Das größere Problem besteht für mich darin, dass wir bei größeren Krediten in Zukunft ein internes oder externes Rating-System für die Banken brauchen, das die kreditsuchenden Unternehmen bewertet und zertifiziert. Ein aktueller Entwurf ist da eher auf die USA-Verhältnisse zugeschnitten und zwingt letztlich die Banken, viel größere Summen zurückzulegen, um Kredite im gleichen Maß wie bisher vergeben zu können. Das bedeutet wiederum, dass die Kreditvergabe an Kleinunternehmen oder an Unternehmen überhaupt zugunsten anderer Aktivitäten der Banken eingeschränkt wird. Da müssen wir sehen, wie wir das verhindern können oder wer sonst einspringen könnte. Unser Kapitalmarkt ist wesentlich weniger differenziert als der amerikanische, mit dem Entwurf täten wir uns hierzulande schwer. Dafür sind in Deutschland die Möglichkeiten, öffentliche Fördermittel zu bekommen, erweitert worden.

Welche Rolle werden in Zukunft die Gewerkschaften spielen? Gerade in der New Economy verspüren die Mitarbeiter kein Verlangen danach. Sind die Gewerkschaften Old Economy?

Weitz: Die Gewerkschaften werden es in Zukunft schwerer haben, doch ohne sie können wir auf Dauer nicht auskommen. Sie müssen sich auf Kernaufgaben wie das Aushandeln von Löhnen und Manteltarifen konzentrieren. Irgendwann wird es allerdings auch keine Flächentarifverträge mehr geben. Was die Gewerkschaften heute leisten, müssen sie dann in die Betriebsräte transferieren, die werden ihr Sprachrohr sein.

Welche Rolle spielen Internet und E-Commerce bei Ihren Mitgliedern?

Weitz: Wir haben bei einer Umfrage festgestellt, dass sich weniger als zehn Prozent unserer Mitglieder vom E-Commerce bedroht fühlen. Und das trotz Prognosen, die von E-Commerce-Umsätzen ausgehen, die sich pro Jahr verdreifachen. Oder besagen, dass im Jahre 2015 bereits 60 Prozent des Einzelhandels über E-Commerce und am stationären Einzelhandel vorbei abgewickelt werden. Das können weder die Mitglieder noch ich nachvollziehen. Es hat im Einzelhandel nie eine Marktform mehr als auch nur 15 Prozent Marktanteil erreicht.

Eine Studie besagt, dass die USA aufgrund des steuerfreien Handels über das Internet bis 2003 elf Milliarden Dollar weniger Umsatzsteuer einnehmen werden. Um dieses Defizit auszugleichen, müsste die USRegierung die Steuern um 0,5 bis ein Prozent anheben. Sehen Sie eine ähnliche Entwicklung in Deutschland?

Weitz: Tatsache ist, dass der meis-te Handel über das Internet ein Warenhandel ist - und Waren werden in dem Augenblick versteuert, wo sie die Landesgrenze überschreiten. Da gibt es nichts zu pfuschen. Nur das kostenlose Runterladen von Software geht an der Mehrwertsteuer vorbei. Sich hierzu Gedanken zu machen, ist die Aufgabe der Finanzämter. Ich werde den Teufel tun und Ihnen erzählen, wie man in Deutschland die Steuern erhöhen könnte. Das kann nicht meine Aufgabe sein.

Im Sommerloch war auch die Steuer für Internet-Nutzung ein Thema. Das ist vorbei, jetzt sollen sogar private PCs mit Internet-Anschluss als Werbungskosten absetzbar sein. Ist die Geschichte damit wirklich vom Tisch oder meinen Sie, dass da noch was kommt?

Weitz: Eine solche Steuer wäre sehr schädlich. Nur: Es gibt Ideen, von denen man meint, da redet jetzt wirklich keiner mehr von - und irgendwann bringt es dann irgendwer doch wieder aufs Tapet. Das ist in der Politik nun einmal häufig so.

Wie steht es um einen globalen rechtlichen Rahmen für Online-Geschäfte? Deutschland ist in dieser Hinsicht nicht sehr innovativ.

Weitz: Die bisherigen Wege der Regulierung werden dem neuen System Internet nicht gerecht. Deshalb wird es auch nie eine weltweite Regelung geben, europaweit könnte da schon eher etwas bewirkt werden.

Nur die Welthandelsorganisation könnte global agieren. Deren Verhandlungen dauern allerdings immer sehr lange. Denken Sie beispielsweise an diejenigen über den Nachlass der Zölle und die Sonderbehandlung von Entwicklungsländern. Es hat fast zehn Jahre gedauert, bis hier Beschlüsse gefasst werden konnten. Mit dem Internet nun haben wir ein völlig neues, sich permanent wandelndes Sys-tem vor uns. Eine nach vier oder fünf Jahren gefundene Regelung wäre sofort wieder überholt.

Soll sich die Politik überhaupt in diese Fragen einmischen? Und wenn ja, wie?

Weitz: Die Politik kann nur Rahmenbedingungen setzen, wie zum Beispiel mit der Fernabsatz-Richtlinie für den Verbraucherschutz. Ein wichtiger Punkt ist auch die Kriminalität, hier muss etwas geschehen. Prüfungsorganisationen vergeben ja bereits Zertifikate, zum Beispiel "geprüfter Online-Shop". Da wird sich demnächst auch der TÜV einschalten. Generell ist es aber besser, die Problematik über Sicherheitsmechanismen innerhalb des Systems zu managen, denn die Gesetze hinken hier immer hinterher.

Eben schenkten Sie den Prog-nosen zum E-Commerce keinen großen Glauben. Wird der stationäre Einzelhandel also nicht vom Internet ausgehebelt?

Weitz: Es wird ganz schlicht und ergreifend eine Kombination aus New und Old Economy geben, wobei letztere erstere aufsaugt. So etwas wie AOL/Time Warner wird es nicht mehr geben. Wenn irgendwann 50 Milliarden Mark Umsatz über das Internet laufen, können Internet-Händler das nicht alleine leisten. Denn sie brauchen nach wie vor die Verfahren der alten Wirtschaft, zum Beispiel wenn es um die Logistik geht.

Zur Startseite