Sprachdienste im Huckepack

18.05.2000
Bisher konnten sich Netzwerkspezialisten darauf verlassen, mit reiner Datenkommunikation genügend Umsatz zu generieren - bei zurückgehenden Margen. Dagegen liefern Sprachdienste über IP Argumente für zusätzliche Verkäufe: Kabel müssen gewisse Mindestanforderungen erfüllen, der Kunde braucht neue aktive Komponenten, und höhere Verfügbarkeiten sind unabdingbar. Was der Widerverkäufer noch alles zu beachten hat, erklärt Hans-Jörg Schilder*.

Derzeit herrscht Goldgräberstimmung bei Herstellern, die auf das Zugpferd Voice over IP (VoIP) setzen. Eine Studie von Frost & Sullivan schätzt den Gesamtmarkt für Internet-Ausrüs-tung, also Hardware wie Modems, Server und Speichersysteme, auf 47 Milliarden Dollar im Jahr 2002. Der weltweite Markt für Telefondienste über das Internet wird bis 2005 auf rund 60 Milliarden Dollar anwachsen.

Von diesem Kuchen wollen sich zwei Händlergruppen ein ordentliches Stück abschneiden: Die klassischen TK-Wiederverkäufer, die sich den Netzwerken öffnen müssen und die Netzwerkspezialisten, die gezwungen sind, sich neue Einnahmequellen zu erschließen. Dies weiß auch Ralf Ebbinghaus, Vizepräsident Sales und Marketing beim Dortmunder VoIP-Spezialis-ten Swyx. "VARs und Händler aus dem IT-Umfeld können ihr bestehendes Netzwerk-Know-how nutzen und ihren Kunden zusätzlich Telefonielösungen anbieten", schlägt der Manager vor.

"Händler aus dem TK-Umfeld erhalten wiederum eine Produktalternative zu den alten TK-Anlagen", meint er weiter. CTI-Lösungen sowie Least-Cost-Routing über unternehmensweite IP-Netze sollen mit den angebotenen Lösungen zum Kinderspiel werden. "Die Connectivity zu existierenden TK-Anlagen ist insbesondere für TK-Händler sehr wichtig", glaubt Ebbinghaus.

Als interessante Dienstleistungskomponente für den Partner kommt bei Swyx zusätzlich das "Customizing" der Lösung in Frage. Mit speziellen Anpassungen an Kundenwünsche lassen sich so neue Wertschöpfungspotentiale erschließen. Ebbinghaus berichtet über die Reaktionen der Händler: "Das Interesse bei den Distributoren ist riesengroß - genauso wie bei den Endkunden." Er geht davon aus, dass bis Mitte Mai die ersten Verträge abgeschlossen sind. Hierbei adressiert Swyx vorzugsweise kleinere und mittlere Unternehmen als Kunden. "Erste Installationen werden im Bereich zwischen 10 und 200 Anwendern liegen", glaubt Ebbinghaus.

Aufklärung tut not

Dagmar Geer, Geschäftsführerin von Innovaphone in Sindelfingen, begleitet ihre Produkte mit einer gehörigen Portion Aufklärungsarbeit: "Die Händler müssen zuerst einmal mit der neuen Technik vertraut gemacht werden." Aus diesem Grund führten die Schwaben den Titel eines so genannten "Innovaphone Certified Engineer" (ICE) ein - so darf sich ein autorisierter Wiederverkäufer nach erfolgreich bestandener Zertifizierung bezeichnen. Bis Herbst sollen etwa 100 Partner zum ICE ausgebildet werden. Die zweitägigen Workshops, die in zweiwöchigem Abstand stattfinden, setzen kein VoIP-Know-how voraus. Erforderlich sind allerdings Grundkenntnisse in TCP/IP- und WAN-Kommunikation, Grundwissen über Routerkonfiguration und Erfahrungen mit Windows 98 und Internet Explorer 5.0.

Innovaphone vermarktet die Produkte über die Distributoren TLK und NT Plus. TLK verfügt dabei über Erfahrungen aus dem IT-Umfeld, während NT Plus aus der Telekommunikationsecke kommt.

Eigentlich entwickelt der schwäbische Hersteller reine VoIP-Gateways, die jedoch über volle TK-Anlagenfunktionalität verfügen. Aus diesem Grund können die Geräte in einer sanften Migration erst für die Verbindung zweier Telefonanlagen eingesetzt werden und liefern später mit Hilfe neuer Ethernet-Telefone die komplette IP-Palette. Will der Kunde auch eine herkömmliche Verbindung (ISDN) nach außen behalten, benötigt er zwei Geräte.

Falls er jedoch auf den Betrieb seiner alten TK-Anlage völlig verzichtet und sie komplett durch das Gateway ersetzt, braucht er kein Pärchen mehr. Dann genügt ihm auch eine IP 400 oder 3000 mit den dazugehörigen IP-Telefonen. So verdient der Händler sowohl am einzelnen Gerät, profitiert von den Zusatzverkäufen oder kann die Produkte in einer Mischkalkulation über die Gesamtlösung vermarkten.

Einstieg in die VoIP-Technik

Aber für welche Kunden lohnt nun der Umstieg auf IP-Telefonie? "Schon in wenigen Jahren wird die Integration von Sprache, Daten und Video weltweit vollzogen sein", meint dazu Detlef Hegermann, Produkt-Manager beim E-Business-Spezialisten Net AG - Stemmer Systems aus Olching bei München. Ausschlaggebend sind ihn hierbei die enormen Einsparungspotentiale gegenüber den dedizierten Sprach- und Datennetzen.

Hegermann warnt jedoch vor falschen Erwartungen: "Die Anschaffungskosten der Technik sind nicht günstiger als bei einer klassischen Telefonanlage. Das Einsparungspotential entfaltet sich erst im laufenden Betrieb." Denn dann muss nur noch ein Netzwerk aufgebaut und gemanagt werden - statt zweier oder gar mehrerer Strukturen.

Die eigentlichen Vorteile sieht Hegermann bei der Entwicklung neuer Applikationen. Im Gegensatz zur TK-Welt basiert die IP-Telefonie auf offenen Standards. Und dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Integration professioneller Unified-Messaging-Lösungen in E-Business-Umgebungen.

Chancen für sein Unternehmen erblickt Hegermann hauptsächlich im Aufbau von Gesamtlösungen. Denn seiner Meinung nach beschränkt sich VoIP nicht auf den Verkauf alternativer Telefonieprodukte. Vielmehr muss das gesamte Netzwerk mit all darin integrierten Routern oder Switches auf die Umstellung vorbereitet werden. Wichtige Basiseigenschaften wie Quality of Service (QoS) und Priorisierung sind bereits im Vorfeld einzuplanen. Dies hat in der Regel Auswirkungen auf die Netzwerk-Management-Software, beispielsweise Unicenter TNG von CA, HPs Open View oder Tivolis System, aber auch auf Sicherheitslösungen wie Firewalls, Intrusion-Detection- oder Antiviren-Software.

Die Net AG setzt vor allem auf VoIP-Systeme von Cisco. Deren Stärke ist die hohe Skalierbarkeit. Laut Cisco lassen sich mit den bestehenden Komponenten sechsstellige User-Zahlen realisieren. Gerade mal 200 Anwender addresiert 3Com mit der NBX 100. Beide Hersteller unterstützen ihre Vertriebspartner durch Schulungen und Workshops. Für die Vermarktung der Produkte sind entsprechende Zertifizierungen erforderlich.

VoIP bedeutet nicht nur ein anderes Übertragungsprotokoll - es gibt auch Feinheiten zu beachten. So sind vorhandene Telefonapparate nur mittels Gateways weiterzuverwenden. Sie verfügen nicht über die Funktionen eines echten Internet-Telefons, das sich über das Ethernet automatisch anmeldet. Dafür ist die ausschließliche Verwendung eines PCs mit angeschlossenen Headsets, Kopfhörer mit Mikrofon, nicht notwendig. Im Call-Center-Umfeld wird diese Alternative jedoch bevorzugt.

Eine weiteres Detail betrifft die verwendeten Kodierungsverfahren, die gesprochene Informationen in Datenströme umsetzen. Hier werden Standards wie G.728 oder G.711 verwendet, die zwischen 16 und 64 Kbit/s an Bandbreite in Anspruch nehmen. Trotz der guten Sprachqualitäten liefern diese Programme nur schlechte Ergebnisse bei Freisprechgeräten. Mit Hilfe der neuen Mpeg4-Kodierung soll dieses Malheur ausgebügelt sein. Dieter Leckschat, Spezialist für Audiotechnik und Projektleiter in der Vorfeldentwicklung bei Siemens, nennt die Gründe: "Mpeg4 liefert das beste Komprimierverhalten und die höchste Sprachqualität."

So erreicht die Technik eine Audiobandbreite von 7 KHz bei einer Bitrate von nur 16 Kbit/s. Zum Vergleich: Der im Voice-over-IP-Bereich übliche Minimalstandard G.711 erlaubt maximal 3,4 KHz Frequenzberich bei 64 Kbit/s. "Dafür steckt auch ein bisschen mehr Intelligenz in Mpeg4", meint Leckschat. Seit einem Jahr ist diese Norm verabschiedet, durch ihre intelligente Datenkompression ent-lastet sie das Internet schon heute.

Eine zusätzliche Finesse betrifft die mobile Kommunikation. Im Gegensatz zum traditionellen TK-Markt müht sich die VoIP-Fan-Gemeinde bisher ohne rechte Erfolgserlebnissemit der Integration von Mobilteilen ab. Derzeit gibt es nur ein H.323-konformes Mobiltelefon, das nach dem IEEE-Standard 802.11 arbeitet, es kommt von Symbol.

Interessanter, preiswerte und vielfältiger, erscheint die Alterna-tive über Dect: Diese Geräte sollen sich an die analogen a/b-Schnittstellen der Ethernet-Telefone anschließen lassen. Damit wird gleichzeitig auch das Faxproblem erschlagen. Kleiner Wermutstropfen: Telefone mit solchen Anschlüssen sind noch in Entwicklung und werden erst Ende 2000 verfügbar sein. Ein Umweg über eigene Adapter existiert bereits, derartige Geräte sind aber sehr teuer.

Mit dem PC telefonieren

Der PC-Client besitzt eine grafische Benutzeroberfläche, die zumeist ein Komforttelefon nachbildet. Konfiguration ist nicht nur unternehmens- oder abteilungsübergreifend möglich, sie kann auch auf die Ebene des einzelnen Nutzers herunter angepasst werden. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind hier vielfältiger als beim klassischen Telefon.

Durch vollständige Integration in bestehende Systemumgebungen ist es ferner möglich, dass ein Mitarbeiter beim Wechsel von einem Arbeitsplatz zum anderen oder bei der Einwahl über das Internet ins Firmennetz jedes Mal seine personalisierte Oberfläche vorfindet. Zusätzlich sind Funktionen wie Anruf- und Rückruflisten sowie Durchwahlfilter integriert.

Aber nicht immer ist der PC-Client der Weisheit letzter Schluss: So muss auch bei ausgeschaltetem PC der Telefonbetrieb funktionieren. In solchen Fällen kann eine IP-PBX von H.323-kompatiblen Telefonen angesprochen werden. Ein IP-Telefon unterscheidet sich von seinem klassischen Pendant lediglich durch die andere Schnittstelle: Statt einer a/b- oder ISDN-Buchse verfügt das IP-Gerät über ein 10/100BaseT-Ethernet-Port. Außerdem verwenden beide Telefontypen verschiedene Protokolle: ISDN-Telefon Q.931 oder Euro-ISDN und sein LAN-Gegenspieler TCP/IP und H.323. Darüber hinaus führt das IP-Telefon teilweise auch die Sprachkompression nach G.723 oder G.729 selbst durch.

Welchen Status hat die VoIP-Technik derzeit? Günther Haag, Geschäftsführer der Net AG - Stemmer Systems warnt vor übertriebener Euphorie und betrachtet das Thema eher nüchtern: "Heute starten die meisten Pilotprojekte noch als Insellösungen. Unsere Kunden wollen sehen, wie sie mittelfristig migrieren können." Ganz oben auf deren Wunschliste stehen jedenfalls Ausfallsicherheit und Zuverlässigkeit.

*Hans-Jörg Schilder ist freiberuflicher Autor in den Bereichen Netzwerke und Telekommunikation.

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