Umgangsformen im Informationszeitalter

11.02.2000
E-Mail, Handy und Videokonferenzen wandeln sich auch die Umgangsformen in deutschen Unternehmen. Was gehört nun in Sachen elektronische Kommunikationsgehilfen zum guten Ton, und was verkneift man sich lieber?

Ulrich Lange klickt und klagt. Vor ihm auf dem Bildschirm nehmen die E-Mails kein Ende. Vor allem nicht die unwichtigen. "Es ist viel Banales und Unwesentliches darunter", sagt Lange. "Ich finde das sehr ärgerlich, zumal ich bei E-Mails den Druck verspüre, sofort zu antworten."

Lange ist kein verknöcherter Technikfeind, weder Kulturpessimist noch E-Mail-Verächter, ganz im Gegenteil: Der 47-jährige Kommunikationswissenschaftler ist Chef des Berliner Jungunternehmens Dynavisions, das Produkte entwickelt, mit denen auch Menschen ohne PC Internet und elektronische Post günstig nutzen können. Warum dann die kritischen Töne? "Ich schätze das Medium E-Mail sehr", stellt Lange klar. "Aber leider verleitet die Mühelosigkeit des Mausklicks viele dazu, bestimmte Regeln der Höflichkeit zu missachten. Und dazu gehört eben auch, seine Mitmenschen nicht mit Nebensächlichkeiten zu überfluten."

Neue Technik, neue Sitten. Lange steht nicht alleine da. In den elektronischen Briefkästen deutscher Manager stauen sich täglich Anfragen von Mitarbeitern, die sich durch ein wenig Nachdenken erübrigt hätten. Hinzu kommen Hinweise auf Literatur, Veranstaltungen oder Web-Seiten, die an jeden weitergemailt werden, den es im entferntesten interessieren könnte. Im Zeitalter von E-Mail, Handy und Videokonferenz droht der Info-Overkill. Mehr noch: Die elektronischen Kommunikationsgehilfen ändern nicht nur unseren Arbeitsalltag, sondern auch die Art, wie wir mit Chefs, Kollegen und Kunden umgehen.

E-Mail: orthografische Katastrophen

Am deutlichsten ist das bei den elektronischen Briefen: "Die meis-ten E-Mails, die ich bekomme, sind orthografische Katastrophen", sagt Stefan Rohr, Vorstandsvorsitzender der Personal- und Management-Beratung R&P Management Consulting Deutschland AG. Mögen andere über abgehackte Sätze, Buchstabendreher und vergessene Worte, über Abkürzungen und Ang- lizismen hinwegblicken, für Rohr ist das "einfach ungebührlich".

Eine Ausnahme bleibt er damit dennoch. Kritische Stimmen sind heute immer seltener. "Als E-Mail noch neu war, haben viele bei uns den lockeren Umgang mit der deutschen Sprache kritisiert", erinnert sich der Konzernbeauftragte für den Datenschutz bei Daimler Chrysler, Alfred Büllesbach. "Mittlerweile wird das stillschweigend akzeptiert." Ein Grund für die neue Lockerheit: Die Elektro-Botschaften für den Infohunger zwischendurch haben oft eine geringe Haltbarkeit. Da erscheint es wenig sinnvoll, ausgiebig Korrektur zu lesen oder sorgfältig zu formulieren. "Das Medium E-Mail verleitet zur Informalität", erklärt Wilfried Schütte die Nachlässigkeit. Der Wissenschaftler untersucht für das Institut für Deutsche Sprache in Mannheim das Kommunikationsverhalten per E-Post. Seine Beobachtung: "E-Mail-Kommunikation ähnelt oft viel stärker einem Gespräch als einer brieflichen Korres-pondenz."

So bleibt denn auch die Anrede nicht lange förmlich. "Sehr geehrter Herr" wirkt auf manche gar befremdlich, besonders, wenn daran nach der ersten Mail festgehalten wird. Man ist schnell beim "Hallo" und "Hi" oder im Zweifelsfall beim "Guten Tag". Bei häufigerem Hin und Her geht auch das unterwegs verloren. Stattdessen wird die Umgangssprache imitiert. Dann wird rasch auf "reply" gedrückt und ein kurzes "Das isses" oder "sure" eingetippt.

Erst schreiben, dann denken

Der Wandel erschöpft sich nicht allein in großzügiger Auslegung der Rechtschreibung oder in flapsigen Formulierungen. Eine E-Mail zu schicken, ist technisch so unaufwendig wie ein Fingerschnipsen. Wer etwas vergessen hat, hat deswegen kaum zusätzliche Arbeit. Einfach eine zweite Mail hinterher schicken. Fertig. Gleichzeitig stauen sich die Mails, die beantwortet werden wollen. Der Reaktionsdruck steigt. Beides zusammen führt dazu, dass die Sorgfalt sinkt: "Viele E-Mail-Empfänger antworten, noch ehe sie den Inhalt der Mail wirklich verstanden oder durchdacht haben", kritisiert Franco Rota, Professor an der Stuttgarter Hochschule für Druck und Medien. "Genauigkeit und Präzision bleiben auf der Strecke."

Das gilt sogar für Bewerbungen per Elektro-Post. So passiert es R&P-Chef Rohr immer häufiger, dass ihn Bewerber am Telefon fragen, worum es in dem Job genau gehe und auf welche Funktion sie sich eigentlich beworben hätten. Für Rohr ist die Ursache klar: "Die Online-Stellenbörsen mit den vorgefertigten Bewerbungsformularen machen das Bewerben so leicht, dass viele erst schreiben und das Nachdenken auf später verschieben."

Verantwortung wird verlagert

Auch innerhalb der Unternehmen bringt die schnelle Post Unbill. Das zeigt eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Danach versuchen viele Mitarbeiter, ihre Verantwortung per Mausklick auszulagern, indem sie ihre Korres-pondenz an Kollegen und Chefs weiterleiten. "Fehlentscheidungen werden so mit Hilfe von E-Mails nachträglich demokratisiert", erläutert der Leiter der Studie, Hartmut Frey. Motto: Jeder hatte die Chance, auf Risiken hinzuweisen. "Am Ende fühlt sich keiner für die Folgen der Entscheidung verantwortlich."

Auch Zuständigkeiten verschwimmen so in der weiten Welt des Webs. Beispiel Heidelberger Druckmaschinen. Nachdem die elektronische Post im Unternehmen eingeführt war, mehrten sich E-Mails, die an zehn oder mehr Kollegen weitergeleitet wurden, obenan die Frage "Wer kümmert sich drum?" Der Effekt: Alle waren angesprochen, keiner meldete sich, und der Kunde wartete auf Antwort.

Inzwischen haben die Heidelberger darauf reagiert. Als sich die E-Mail-Unsitten häuften, brachten einige Mitarbeiter eine kleine Broschüre auf den Weg. Das "E-Mail-Fitnessprogramm" rät unter anderem, "Schrotschüsse" zu vermeiden und klar zu machen, "welche Reaktion sie von welchem Adressaten bis wann erwarten."

Wer ein Gegner von Hierarchien und Freund der kurzen Wege im Unternehmen ist, kann sich über den Einzug der E-Mails freuen. Die elektronische Post umschifft lo-cker Barrieren. "Jeder, der Zugang zu unserem Intranet hat, kann mir direkt mailen", sagt Julius v. Ingelheim, Generalsekretär bei Audi und Büroleiter von Audi-Chef Franz-Josef Paefgen. "Meine Sek-retärin sortiert da nichts aus." Genervt fühlt sich v. Ingelheim durch die Mails der Mitarbeiter nicht. "Die meisten Hinweise und Anregungen sind interessant oder witzig."

Höflich ist, was Zeit spart

Längst gibt es so etwas wie Benimmregeln für die elektronische Post. Wer schlechten Stil beweisen will, muss nur den Empfänger mit langatmigen Höflichkeitsfloskeln nerven und ihn zwingen, solange herunterzuscrollen, bis die eigentliche Nachricht kommt. Oder anders formuliert: Höflich ist, was Zeit spart; unhöflich, was Zeit raubt. "Gefragt sind ein schlagkräftiger Betreff, ein Aufbau nach dem Prinzip das Wichtigste zuerst und eine Signatur, die informativ und nicht übermäßig ausgeschmückt ist", sagt Sprachexperte Schütte.

Eine weitere Regel: E-Mail-Schreiber warten nicht gerne auf Antwort. "Ich erwarte im Unternehmen, dass auf Mails am selben Tag geantwortet wird", beschreibt R&P-Chef Rohr den Kommunikations-Standard. Daran halten sich auch andere Führungskräfte: "Meine Mails beantworte ich immer so schnell wie möglich", verrät Volker Tietgens, Vorstandsvorsitzender der Multimedia-Agentur Concept. Die Kehrseite: "Dafür muss dann eben die Post länger warten."

Video: Öfter mal den Mund halten

Während E-Mails Nachlässigkeiten erlauben, verlangen Videokonferenzen den Teilnehmern deutlich mehr Sorgfalt ab. "Das fängt schon bei der Kleidung an", sagt Jörg Hoffmann, Marketing-Leiter bei MVC Mobile Video Communication Deutschland. Das Frankfurter Unternehmen vertreibt Videokonferenzsysteme und macht mit seinen Kunden auf Wunsch eintägige Anwendertrainings. Der Schwerpunkt am Anfang: Modetipps. So lassen kleinkarierte Muster, grelle Farben und Glitzerschmuck den Redner auf der anderen Seite "nicht im bes-ten Licht erscheinen", weiß Hoffmann. Manchmal ergeben sie sogar ein schwirrendes Bild. Besser sei einfarbige Kleidung.

Vor allem beim Sprechen müssen sich die Teilnehmer beherrschen. Wenn viele gleichzeitig reden, übertragen weniger ausgefeilte Sys-teme nur ein ununterscheidbares Gemurmel. Fällt jemand dem Redner ins Wort, entsteht für einen Moment Verwirrung. "In Videokonferenzen nehme ich mich deshalb viel stärker zusammen. Auch die Kollegen sind disziplinierter", sagt Reiner Gratzfeld, der bei Henkel für das Informations-Management verantwortlich ist.

Nett ist, wer nah ist

Auch fehlen bei Videokonferenzen der Händedruck, der Smalltalk, die höflichen Erkundigung nach der Anreise und die Frage, ob der Kaffee lieber mit Milch oder mit Zucker getrunken wird, Aufmerksamkeiten also, die ein gutes Geschäftsklima schaffen. Stattdessen überbrücken die Video-Manager die fehlende Nähe mit Humor: Über Kontinente hinweg wird dann miteinander angestoßen, oder Konferenzteilnehmer in den USA beschweren sich scherzhaft über den Zigarettenrauch, den der Kollege in Deutschland in die Luft pustet.

Solche Scherze sind wichtig, um Verbindung zu schaffen, weiß Chris- toph Meier, Videokonferenzexperte vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. "Wenn man nicht aufpasst, entsteht sehr leicht eine Polarität: Wir hier, die dort." Eine Studie der Boston Universität bestätigt das: Tendenziell werden Gesprächspartner vor Ort positiver beurteilt als die Kollegen am anderen Ende der Leitung.

Beim Telefonieren mit dem Handy ist das eher umgekehrt. "Durch das Handy kommt es zur Entwertung des unmittelbaren Gegenübers", beobachtet Dynavisions-Chef Ulrich Lange, der als Kommunikationswissenschaftler an der FU Berlin jahrelang das Telefonverhalten seiner Mitmenschen untersuchte. Augenfälligs-tes Beispiel: Manager, die in der ersten Klasse des ICE mit lauten Gesprächen über Entlassungen, Kredite und geplatzte Geschäfte ihre Mitreisenden belasten.

Doch auch im direkten Kontakt ist zu spüren, wie das Handy die Umgangsformen verändert. "Wenn man permanent erreichbar ist, verliert das Wiedersehen an Bedeutung", sagt die Frankfurter Psychoanalytikerin Anna Leszczynska. Ob man permanent verfügbar sein will, wird zu einer Frage der Selbstdefinition: Das Handy bleibt an, wenn man glaubt, unersetzbar zu sein, oder wenn man Angst hat, etwas zu verpassen. "In jedem Fall aber bedeutet das eine Geringschätzung sowohl des privaten als auch des geschäftlichen Bereichs", so die Psychologin. Seien es telefonierende Teenager oder Paare im Restaurant "Wenn jemand, mit dem ich zusammen bin, dauernd per Handy noch an andere Personen gekoppelt ist, kann sich keine Intensität aufbauen." Das sieht Kommunikationswissenschaftler Lange ähnlich: "Manch einer steht mitten im Gespräch auf und redet mit der Sekretärin oder greift zum Handy, ohne dass er sein Gegenüber explizit kränken will." Tatsächlich ist er dank Handy nur gewohnt, die freie Wahl des Gesprächspartners zu haben. Und diese Erfahrung wendet er konsequent an.

Wertendes Werkzeug

Gleichzeitig wissen viele, dass sie mit dem Handy Achtung oder Missachtung signalisieren können. Wer seinem Gegenüber zeigen will, dass er es nicht ernst nimmt, braucht nur demonstrativ eine Viertelstunde am Mobiltelefon über Nebensächlichkeiten zu diskutieren. "Das Handy wird dann als Werkzeug genutzt", sagt Lange. Umgekehrt: Wer sein Gegenüber wertschätzt, schaltet das Taschentelefon vor einem persönlichen Gespräch sichtbar aus.

Selbst Handyhersteller sind da sensibel. So gilt beim finnischen Marktführer Nokia die unausgesprochene Regel, Handys in Sitzungen grundsätzlich auf "klopfen" zu stellen, oder allenfalls einmal piepen zu lassen. Kommt ein "stummer" Anruf oder eine Kurzmitteilung, entscheidet jeder selbst, ob er hinausgeht. "Wir wollen erreichbar sein, aber nicht auf Kosten der anwesenden Personen", sagt der Sprecher der Nokia-Geschäftsführung in Deutschland, Stefan Majurin.

Eindruck schinden

In Zeiten elektronischer Kommunikation stellt sich allerdings nicht nur die Frage, was man sagen soll, sondern auch wie. Ist eine E-Mail geeignet? Oder soll es doch ein Anruf sein? Erledigt man das schnell per Videokonferenz? Oder setzt sich doch besser jemand in den Flieger nach New York? Nicht jedes Medium passt zu jeder Botschaft. Die meisten wissen das und handeln danach. Henkel-Informations-Manager Gratzfeld beispielsweise nutzt die Videokonferenz nur dann, wenn er mit gut bekannten Menschen Informationen austauschen oder organisatorische Fragen regeln will. Bei Erstkontakten oder bei hochsensiblen Einkaufsgesprächen trifft er sich lieber mit den Leuten vor Ort. "Bei einer Videokonferenz kommen nur etwa 70 bis 80 Prozent der nonverbalen Informationen rüber", schätzt er. "Die restlichen 20 Prozent können jedoch entscheidend sein."

Selbst E-Mails erfüllen nicht jeden Zweck. So zeigt die BMBF-Studie auch: Wenn es um Information und Organisation geht, ist die elektronische Post willkommen. Wer dagegen beim Chef Eindruck schinden will, Konflikte ausräumen möchte oder seine eigene Position im Unternehmen festlegen will, vertraut dem Mausklick nicht. Er marschiert zu Chef oder Kollegen und sendet im persönlichen Gespräch seine verbalen und nonverbalen Signale, bis das Handy klingelt.

Dieser Artikel erschien erstmals in der "Wirtschaftswoche" 38/00 am 14.09.2000

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