"Unserer Industrie fehlt der Mut, neue Ideen und Technologien auszuprobieren"

21.08.2003
"Deutschland braucht einen Reformer, der wie ein Unternehmer denkt." Das ist eine der Forderungen, die Andreas Dohmen, Deutschland-Chef des weltweit größten Netzwerkanbieters Cisco, an die politische Führung hat. In einem Interview mit den ComputerPartner-Redakteuren Damian Sicking, Wolfgang Leierseder und Christian Meyer legt er aus seiner Sicht dar, welche Rahmenbedingungen sich ändern müssen, damit der Konjunkturmotor wieder anspringt.

Viele Hersteller klagen darüber, dass die Geschäfte in Deutschland im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern derzeit besonders schlecht gehen. Macht Cisco die gleiche Erfahrung?

Dohmen: Das würde ich so nicht sagen. Aber sicher ist, dass deutsche Unternehmen nach wie vor zurückhaltender bei ihren Investitionsentscheidungen sind. Viele waren vergangenes Jahr nach Restrukturierungsprogrammen bei ihren Investitionen ganz unten angekommen. Investitionen sind nun einmal an eine florierende Wirtschaft gebunden. Im Augenblick kann leider niemand vorhersehen, wie sich die Wirtschaft verändert und damit das Investitionsverhalten von unseren Kunden. Langfristig bin ich optimistisch, kurzfristig spielen jedoch zahlreiche Variablen eine Rolle. Ich bin davon überzeugt, dass, sobald die Konjunktur anzieht, zuerst wieder mehr in IT investiert wird. Denn Netzinfrastruktur treibt Produktivität und damit auch langfristig Gewinn und Wachstum in den Unternehmen voran.

Warum steht Deutschland im europäischen Vergleich so schlecht da? Was sind die Ursachen?

Dohmen: Deutschland steckt mitten in einem Reformstau, da erzähle ich Ihnen nichts Neues. Die Konjunktur zieht nicht an, die Prognosen sind eher verhalten. Dazu kommt: Der typische Deutsche ist von Natur aus vorsichtig. Jeder wartet auf das Anspringen des Motors - aber das tut er nicht von alleine.

Was soll man tun? Abwarten und Tee trinken, bis sich die Zeiten bessern?

Dohmen: Wie schon gesagt, das hat noch nie viel geholfen. Die Unternehmen haben vollkommen richtig in der Vergangenheit ihre Strukturen neu geordnet und ihr Business konsolidiert. Sie sollten aber rechtzeitig wieder in Zukunftstechnologien investieren, um gut aufgestellt zu sein, wenn die Wirtschaft wieder anzieht. Es ist in der heutigen Zeit fast ein Mantra von Unternehmern geworden, sich die Frage zu stellen, wie sie die Produktivität in ihrem Geschäft verbessern können.

Wenn Sie Kanzler von Deutschland wären, was würden Sie als erstes tun? Was ist das Wichtigste, was dringend geschehen und umgesetzt werden muss?

Dohmen: Was Deutschland im Moment dringend benötigt, ist ein Reformer, der wie ein Unternehmer denkt. Der nicht nur Kostensenkungspotenziale aufspürt und aufräumt, sondern auch notwendige strukturelle Veränderungen vornimmt. Und sich nicht scheut, Reformen wie die des Steuersystems, Gesundheitssystems, Sozialsystems - um nur einige zu nennen - anzugehen, und den Mut hat, in diesem Zusammenhang unpopuläre Entscheidungen zu treffen. In einem föderalen System ist das allerdings nicht ganz so einfach. Reformideen können da sehr leicht wegdiskutiert werden.

Ist die Agenda 2010 von Kanzler Schröder der richtige Weg? Was ist gut, was schlecht, was wichtig, was nicht? Was muss von politischer Seite geschehen?

Dohmen: Die Diskussionen um die Zukunft des Sozialstaates und den Umbau der sozialen Sicherungssysteme waren dringend notwendig. Wichtig sind aus meiner Sicht nun aber zwei Dinge: Zum einen müssen die in der Agenda 2010 zusammengefassten Themen schnell umgesetzt werden, zum zweiten müssen wir uns der eigentlichen Frage zuwenden. Und die lautet: Wie können wir Innovation und Wachstum in Deutschland stärken? Wir brauchen eine andere Standortdebatte. Eine, die sich auf neue Produkte, Märkte, Technologien und Anwendungen konzentriert.

Derzeit redet die Bundesregierung wieder vom Abbau von Subventionen - von 45 Milliarden Euro ist die Rede -, um Steuererleichterungen durchführen zu können. Wann sind Subventionen berechtigt, und welche bestehenden sollten abgeschafft werden?

Dohmen: Wir sind in der Diskussion um Impulse für die breitbandige Kommunikation, Dienste, Inhalte und Anwendungen im Rahmen der Deutschen Breitbandinitiative sehr schnell auch auf das Thema Subventionen gekommen. Einige Länder, wie zum Beispiel Südkorea, haben mit Milliarden Dollar öffentlicher Gelder ganz erhebliche Fortschritte machen können. Trotzdem meine ich, dass wir in Deutschland auch ohne Subventionen in diesem Bereich auskommen können. Allerdings sollte der Staat darüber nachdenken, wie er durch eine nachhaltige Investitionspolitik ähnliche Fördereffekte erreichen kann.

Viele beklagen die fehlende Innovationskraft in Deutschland (erheblicher "Import" von Patenten aus dem Ausland). Was muss hier getan werden - vielleicht doch wieder Subvention?

Dohmen: Nein. Zum einen sind die Patente eher ein psychologisches Problem. Unserer Industrie fehlen derzeit die Bereitschaft und der Mut, neue Ideen und Technologien auszuprobieren. Die Unternehmen schauen auf die Kosten und schränken zum Teil auch ihre F&E-Ausgaben ein. Zum anderen müssen wir im Vertrieb besser werden. Viele der Ideen, die da sind, werden nicht optimal vermarktet. Der Return on Investment für Forschung und Entwicklung ist da nicht eindeutig erkennbar. Die Amerikaner können das besser. Außerdem sind gute Vertriebsleute nach wie vor Mangelware. Vertrieb kann man in Deutschland nicht wirklich lernen. Ein persönliches Projekt von mir in diesem Umfeld ist unsere so genannte Sales-Campus-Initiative. Wir werden im Herbst im kleinen Rahmen und ganz praxisnah Workshops in unseren Niederlassungen anbieten, in denen Studenten von Natur- und Ingenieurswissenschaften Vertriebs- und Marketingstrategien erlernen können.

Vielleicht lässt sich mit Sponsoring aus der Privatwirtschaft etwas erreichen, wie es in den USA ja gang und gäbe ist. Wie wäre es, wenn Cisco einen Lehrstuhl an einer deutschen Universität sponsert?

Dohmen: Siehe oben. Außerdem engagieren wir uns primär in der Ausbildung von Netzwerktechnikern und investieren dort eine große Summe. Mit unserer Bildungsinitiative Networking haben wir da 1999 in Deutschland ein Programm ins Leben gerufen, mit dem wir die Kombination aus klassischem Fachwissen und IT-Know-how fördern wollen. Bislang haben 3.000 Schüler und Studenten diese Zusatzausbildung zum Technischen Netzwerkassistenten absolviert, in zwölf Bundesländern wird diese an 300 Akademien bereits angeboten.

Hat die deutsche Bevölkerung die Mentalität, die geistige Einstellung, die es braucht, um das Land wieder nach vorne zu bringen?

Dohmen: Genau das ist der Punkt derzeit. Uns fehlen das Ärmelhochkrempeln und eine gehörige Portion Pragmatismus. Die Wirtschaft befindet sich schon eine ganze Weile in einer Talsohle, wir stecken aber auch mitten in einer sozialpolitischen Diskussion, wie die Sozialsysteme in einer überalterten Bevölkerung aussehen müssen. Der Reformstau tut sein Übriges dazu. Alles zusammen macht den Deutschen derzeit wenig Mut. Schaut man sich aber in Europa einmal um, sieht man, dass es den anderen Ländern ähnlich geht. Wir Deutschen dürfen uns davon nicht beeindrucken lassen.

Sehen Sie aus dem IT-Bereich ein Segment, eine Technologie, wo Deutschland das Zeug hat, international eine Führungsrolle zu übernehmen?

Dohmen: Ich sehe da verschiedene Optionen. Beispielsweise steckt noch viel Potenzial in Mobility-Lösungen. Unternehmen profitieren von erheblichen Produktivitätszuwächsen alleine dadurch, dass ihre Mitarbeiter von allen Orten aus arbeiten und auf Unternehmensdaten zugreifen können. Grundvoraussetzung dafür sind einheitliche Standards. Cisco ist in zahlreichen Gremien vertreten, um dies voranzutreiben. Ich werde auch oft gefragt, ob IP-Telefonie in Deutschland wirklich ein Zukunftsmarkt ist. Da sind uns die USA derzeit weit voraus. Dies hat mehrere Gründe. Die Unternehmen sind daran interessiert, die Vorteile der neuen IP-Telefonie-Technologien zu nutzen, um zu den Kunden eine schnellere und effizientere Beziehung aufzubauen. Daneben ist die Deregulierung des Telekommunikationsmarktes in den USA weiter fortgeschritten. In Deutschland dagegen ist die Adaption der IP-Telefonie stark von den ISDN-Funktionalitäten getrieben. Im Arbeitsalltag werden diese Leistungsmerkmale aber von den Mitarbeitern oft gar nicht genutzt. Bei der Zusammenführung der Sprach- und Datennetze müssen daher erweiterte Funktionen für die IP-Telefonie-Produkte bereitgestellt werden.

Wie steht es mit der geistigen Haltung der deutschen Bevölkerung? Was ist mit den traditionellen deutschen Tugenden, vor allem Fleiß? Sind die Deutschen zu satt, zu träge und gleichzeitig zu anspruchsvoll geworden?

Dohmen: Nein, träge sind wir nicht. Wir diskutieren nur viel zu viel und treffen zu wenig Entscheidungen. Das macht mürbe.

In den 60er-Jahren rief der amerikanische Präsident John F. Kennedy seinen Landsleuten zu: "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst." Er erntete dafür stürmischen Beifall. Wie würden die Reaktionen in Deutschland ausfallen, wenn unser Bundeskanzler heute so etwas sagen würde?

Dohmen: Ich bin mir sicher, er würde auf viel Zustimmung stoßen. Nur ist es in einem föderalen System schwierig, für jeden Einzelnen einen erkennbaren Beitrag zu leisten. Es gibt einfach zu viele Entscheidungsinstanzen, die man durchlaufen muss, will man wirklich etwas verändern.

Anderes Thema: Basel II. In der Diskussion werden vor allem die negativen Konsequenzen herausgestellt. Ist dieses Negativ-Image von Basel II sachlich gerechtfertigt? Wir können uns vorstellen, dass Unternehmen dadurch genötigt werden, mit mehr Sorgfalt und Professionalität ihre Finanzen zu ordnen. Das wäre doch ein positiver Effekt.

Dohmen: Das stimmt. Vor allem für als erstklassig eingestufte Unternehmen bedeutet Basel II eine Erleichterung. Dagegen wirkt sich die neue Eigenkapitalvorschrift für Unternehmen mit niedriger Bonität härter aus. Das trifft vor allem den Mittelstand, der seinen Finanzierungsbedarf traditionell bis zu 75 Prozent mit Fremdmitteln deckt. Ein externes Rating kann für kleinere Unternehmen sehr kostspielig werden. Die Chance liegt dagegen beim internen Rating, das Stärken und Schwächen analysiert und Ansatzpunkte liefert, die finanzielle Situation eines Unternehmens gezielt und nachhaltig zu verbessern.

Cisco ist Mitglied der Initiative D21. Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden? Und was haben Sie bisher überhaupt erreicht?

Dohmen: Man braucht nur die Zahlen der Internetnutzer im Gründungsjahr von D21 und heute vergleichen, um den Erfolg der Initiative D21 zu bewerten. Wir sind hier, wie auch zum Beispiel bei der Ausstattung der Schulen mit Computertechnik und Internetzugängen, ein erhebliches Stück vorangekommen und konnten die Defizite im internationalen Vergleich weit gehend ausgleichen. Vor allem konnten wir bei den politischen Entscheidern in diesem Land eine wesentlich höhere Sensibilität für die D21-Themen erreichen. Allerdings muss man sich auch die Frage stellen, ob von der Initiative D21 in der jetzigen Form noch genügend Wachstumsimpulse und neue Ideen ausgehen.

Andere Branchen - Beispiel Bauern - haben eine starke Lobby und schaffen es immer wieder, ihre Interessen politisch durchzusetzen. Von einer starken Interessenvertretung der IT-Branche merkt man wenig. Hat die Branche dies nicht nötig?

Dohmen: Im Zusammenhang mit der Deutschen Breitbandinitiative hört man hin und wieder den Vorwurf, wir würden zu wenige Forderungen an die Bundesregierung stellen. Ich bin kein Freund lautstarker Lobbyarbeit und tradierter Rituale. Sicher kann man nicht alles sofort im Konsens lösen. Das enge und vertrauensvolle Zusammenwirken mit der Bundesregierung in der Breitbandinitiative bringt jedoch auf mittlere und lange Sicht bessere und nachhaltigere Resultate. Ich frage mich auch, wie zeitgemäß der klassische Lobbyismus heute ist.

Wo sehen Sie Wachstumsmöglichkeiten in Deutschland, auch für Cisco? Sie sagten an anderer Stelle, dass das Thema Breitbandverkabelung ("Verbreitbandung") noch erhebliches Potenzial hat. Glauben Sie wirklich, dass alle Haushalte einen Breitbandanschluss benötigen und dann auch neue Dienste in Anspruch nehmen werden? Schließlich gibt es die nicht zum Nulltarif. Eine Durchschnittsfamilie muss sehr genau rechnen. Schon jetzt ist die Belastung für Medien groß: Telefon, Kabelgebühr, GEZ, Mobiltelefon (vielleicht auch noch für die Kinder), möglicherweise noch ein Abo von Premiere, Tageszeitung, Fernsehzeitschrift und und und. Da überlegt man sich schon, ob man noch einmal 70 oder 80 Euro für einen DSL-Anschluss bezahlen kann.

Dohmen: Genau da liegt das Potenzial - auf Verbraucher- als auch auf Unternehmensseite: Hochgeschwindigkeitszugänge ermöglichen uns bald, alles aus einer Hand zu kaufen und gleichzeitig zu nutzen: Telefon, Fernsehen und Internet. Mailand und Schweden gelten als Vorreiter in Europa. Unter dem Stichwort Ethernet-to-the-home sind komfortable Anwendungen wie E-Banking, E-Shopping, Haushaltsautomatisierung und Videoüberwachung auch für Deutschland eigentlich keine Zukunftsmusik mehr. Ich bin davon überzeugt, dass Filme, Musik und sonstige Bilddaten, die über das Internet heruntergeladen werden, den Bedarf nach breitbandigen Internetzugängen vorantreiben werden. Damit werden Breitbandtechnologien und die dadurch möglichen Inhalte, Anwendungen und Dienste eine wichtige Rolle bei der Sicherung und dem Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten spielen. Aus diesem Grund fand im Juni der erste Deutsche Breitbandgipfel im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit unter Leitung von Minister Wolfgang Clement statt. Eine Initiative, bei der sich Cisco besonders engagiert hat und die von Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützt wurde. Wir haben dort einen Zehn-Punkte-Plan für die weitere Arbeit der Deutschen Breitbandinitiative vorgestellt und mit 120 Unternehmensvertretern diskutiert. Schaffen wir es, Breitbandverkabelung bis 2005 zu einer dominierenden Zugangstechnologie zu entwickeln, können wir viel für Wachstum und Beschäftigung tun.

Bleiben wir noch beim Thema Telekommunikation. Ende der 90er-Jahre ist der TK-Markt in Deutschland liberalisiert worden. Sind die Ziele erreicht? Ist man heute da, wo man sein wollte?

Dohmen: Das Beispiel Mobilkommunikation zeigt, wie gut funktionierender Wettbewerb Anbietern und Verbrauchern gleichermaßen nutzt. Im Bereich der kabelgebundenen Telekommunikation haben wir diesen Stand noch nicht erreicht. Ich bin aber optimistisch, dass die Novelle des Telekommunikationsgesetzes, die bis Ende des Jahres erfolgen soll, hier weitere Fortschritte bringt.

Stichwort UMTS: Welche Erwartungen haben Sie?

Dohmen: UMTS wird seinen Weg machen, allerdings symbiotisch mit WLAN. Die Stärken von UMTS liegen in der Reichweite und der flächendeckenden Versorgung. Durch die geringere Bandbreite von zwei Mbit/s sind den Einsatzgebieten zum Teil Grenzen gesetzt. Hier kommt die WLAN-Technologie ins Spiel. Die Vorteile von WLAN liegen ganz klar in der hohen Bandbreite, nämlich zur Zeit bis zu 54 Mbit/s, der großen Anzahl von Endgeräten, sprich PCs, und den geringen Kosten für den Aufbau. An den so genannten Hotspots, wie Flughäfen, Hotels, Kongresszentren sind WLANs die erste Wahl, da hier viele Kunden Datendienste mit ihren Laptops nutzen werden. Dagegen wird in der Fläche, beispielsweise an Autobahnen, eher UMTS anzutreffen sein.

Eine Frage hätten wir noch: Unter welchen Voraussetzungen wären Sie bereit, eine aktive Rolle in der Politik zu übernehmen?

Dohmen: Um Gerüchten vorzubeugen: Ich fühle mich in meiner jetzigen Position pudelwohl und genieße die Gestaltungsspielräume und Herausforderungen an der Spitze von Cisco Deutschland. Gerade im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland ist es mir aber wichtig, mich einzumischen und einen Beitrag zu leisten, um Dinge voranzutreiben oder zu ändern. Die Deutsche Breitbandinitiative ist so ein Beispiel. Leider ist es schwierig, den Idealfall zu erreichen: eine sachorientierte Arbeit ohne Einfluss zahlreicher Interessensgruppen.

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