Der Countdown läuft

20.08.1998

MÜNCHEN: Noch vor zwei Jahren war das neue Jahrtausend sehr weit weg. Die Wenigsten machten sich damals schon Gedanken über die Konsequenzen, die die Umstellung von 99 auf 00 haben kann. Inzwischen jedoch denken auch die standhaftesten Ignoranten über die Auswirkungen nach.In der Silvesternacht 999 spielte die damalige zivilisierte Welt verrückt. Die meisten Menschen waren damals felsenfest davon überzeugt, daß um Mitternacht die Welt untergehen werde. Der Klerus rief zur Reue auf, der Adel feierte wilde Orgien, in der Meinung, daß am nächsten Tag die Sonne sowieso nicht mehr aufgehe.

Tausend Jahre später sehen die Menschen der Jahrtausendwende etwas gelassener entgegen. Für viele bedeutet die Nacht zum 01.01.2000 nur ein Silvester wie viele andere auch. Doch in dieser Neujahrsnacht wird einiges passieren. Um 00:00 Uhr werden Aufzüge stehenbleiben, Türen werden sich nicht mehr öffnen, Kernkraftwerke werden zu Zeitbomben, Alarmanlagen werden verrückt spielen und und ... Ein Großteil der Mikroeletronik, die seit Jahrzehnten unauffällig für einen reibungslosen Ablauf unserer Zivilisation sorgt, wird mit der Jahresangabe "2000" nicht zurecht kommen.

Soft- und Hardware sind gleichermaßen betroffen

Experten sind sich einig: Auch die sorgfältigste Vorbereitung wird nicht alle Unsicherheiten beseitigen. Unsicherheitsfaktor Nummer eins sind die weit über drei Milliarden Mikrochips (Gartner Group), die mittlerweile in elektronischen Geräten ihren Dienst versehen. Die meisten von ihnen sind mehrere Jahre alt. Das heißt, auf ihnen sind Programme eingebrannt, die mit zweistelligen Jahresangaben arbeiten. Am 01.01.2000 bekommen sie nur die Angabe "00". Damit können die Chips nichts anfangen. Die Angabe "00" bedeutet für sie das Jahr 1900. Die Folge: Sie quittieren den Dienst oder fabrizieren aufgrund der falschen Zeitangaben Fehler.

In der IT-Branche betrifft dies vor allem die CMOS-(Complementary Metal Oxide Semiconductor)-Chips. PC-Hersteller Fujitsu schätzt den Anteil der 2000-unfähigen Computer in den Unternehmen auf rund 60 Prozent. "Alle diese PCs sind nicht über das Jahr 2000 zu bringen", sagt Chief Operating Officer von Fujitsu in Bad Homburg, Winfried Hoffmann, voraus.

Doch nicht nur die Hardware, auch die Software kann Schwierigkeiten bekommen. Fast jedes Programm arbeitet mit Zeitangaben. Hat der Programmierer seinem Programm nur eine zweistellige Jahresangabe gegönnt, so sieht sich die Software in das Jahr 1900 zurückversetzt. Die Folge sind zum Beispiel dreijährige Kinder, die ab dem nächsten Jahrtausend Rentenbescheide zugeschickt bekommen oder Kreditverträge mit einer Laufzeit von "minus 95" Jahren. Einige Programme werden den Zugriff auf die Daten vollkommen verweigern. Betriebssysteme und Netzwerke laufen Gefahr, statt der neuen Daten die alten zu verwenden oder neu eingegebene Daten falsch zu speichern. Anwendungsprogramme lassen eventuell das Datum nicht zu oder geben falsche Listen oder Sortierungen aus. Und das Problem betrifft nicht nur alte Software, sondern auch die meisten neueren Programme.

Hersteller sind im Zugzwang

Die Softwarehersteller reagieren prompt. "Year 2000 compliant" heißt die Devise. Die meisten Anbieter von Standardapplikationen haben ihre Produkte bereits für das neue Jahrtausend gerüstet. Oracle beispielsweise sieht keinen Grund zur Panik. Der Datenbankhersteller hat schon 1992 begonnen, seine Produkte auf den Standard SQL 92 umzustellen. Wolf Nagel, Jahr-2000-Spezialist bei Oracle, schreibt dazu etwas süffisant auf der Oracle-Homepage: "Die Situation ist eindeutig: Anwendungen mit Oracle 7 und Oracle 8 werden am ersten Januar crashen!!! Aber nicht im Jahr 2000, sondern zweitausendsiebenhundertunddreizehn Jahre später, also am 01.01.4713. Das verdanken wir dem Datentyp "Date" von SQL. Denn im Standard SQL 92 läßt ANSI dafür nur Werte zwischen dem 1. Januar 4712 vor Christi Geburt und dem 31. Dezember 4712 nach Christi Geburt zu."

Die eigentliche Tücke liegt jedoch in den IT-Umgebungen. Die Netzwerke bestehen ja nicht nur aus Textverarbeitungen, Gafikprogrammen oder Tabellenkalkulationen. Unsicherheitsfaktoren sind die Transaktionsprotokolle, die Sharewareprogramme und Zusatztools, die, von keinem Systemoperator bemerkt, seit Jahren ihren Dienst verrichten "Niemand kann garantieren, daß eine komplexe IT-Umgebung mit Hunderten selbst entwickelter, gekaufter und integrierter Applikationen nach dem 01.01.2000 auch tatsächlich funktioniert", warnt Karl-Ekkehard Klinger, Geschäftsführer von CVSI Services International, Anbieter von technischen Dientsleistungen in Wiesbaden.

Diese Komponenten bereiten auch Wolf Nagel Bauchgrimmen: "Unsere Produkte sind in Ordnung, aber wir können nicht alle unsere Zulieferer konsequent durchtesten. Die Angst, die wir haben: Wenn irgendein Protokoll nicht kompatibel ist, und der Kunde bemerkt den Fehler über unsere Datenbank, dann bekommen wir die Reklamation."

Die Haftungsfrage ist nicht geklärt

Bislang so gut wie gar nicht beachtet, ist die große Frage der Gewährleistung. Wer haftet im Falle eines kompletten Ausstieges der IT-Anlage? Der Hersteller? Das Systemhaus? Der Wiederverkäufer? Oder bleibt der Kunde auf seinem Schaden sitzen?

Die Bundesregierung hält sich aus allem heraus und beruft sich auf bestehendes Vertragsrecht. "Eine Haftungsfreistellung kommt nicht in Betracht. Es bleibt bei der vertraglichen Verteilung in dem Dreiecksverhältnis Softwarehersteller-Anwender-Kunde. Für ein Eingreifen der Bundesregierung in diese Vertragsverhältnisse besteht kein Anlaß, zumal die Ursache der möglichen Probleme, nämlich die Datumsumstellung, bereits seit langem bekannt ist", argumentiert das Bundesministerium des Inneren.

Hersteller, Dienstleister und Wiederverkäufer ziehen sich auf klar abgegrenzte Garantien zurück.. "Wir übernehmen Gewährleistung für einen definierten Umfang, und zwar auf die von unseren Lieferanten attestierten Fähigkeiten eines Produktes, gleich ob Hardware, Software oder sonstige Produkte. Wir sind gerade im Hardwarebereich bemüht, entsprechende Zeugnisse von Herstellern zu erhalten", erklärt Jürgen Schmidt, Geschäftsführer des IT-Dienstleisters Roton in Stuttgart.

Bernd Harder, Rechtsanwalt bei der Kanzlei Graefe und Partner in München warnt: "Es wird viele Fälle von Gewährleistungsansprüchen geben. Aber es ist noch sehr offen, wie sich das in Einzelfällen darstellen wird. Jeder Fall wird anders sein. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren."

Grundsätzlich gilt bei Ladenthekengeschäften die sechsmonatige Frist, im Großrechnergeschäft kann man dagegen von einer viel längeren Frist ausgehen, da Großrechner über einen längeren Zeitraum in Betrieb sind.

"Aber sowohl der Fachhändler als auch das Systemhaus muß seiner Aufklärungspflicht nachkommen", mahnt Harder.

Das beste Beispiel ist Windows 95. Es ist bekannt, daß Windows 95 mit einigen 2000-Bugs zu kämpfen hat. Fachhändler, die das Betriebssystem verkaufen, müssen ihre Kunden darauf hinweisen. Anderenfalls kann der Kunde auf der Rücknahme des Produktes bestehen. Der Händler seinerseits kann seinen Schaden nur bedingt an den Hersteller weitergeben (siehe Artikel "Jeder Vertrag muß sofort

genau geprüft werden", S. 44).

Die Aussichten sind düster: Sollten wirklich alle Rechtsbeziehungen des deutschen Vertragsrechts wörtlich genommen werden, werden die Gerichte in Klagen ertrinken. "Eine Klage lohnt sich in den wenigsten Fällen. Man sollte auf jeden Fall vorher immer lesen, was im Vertrag steht", warnt Harder vor voreiligen Schadensersatzansprüchen. Auch Roton-Geschäftsbereichsleiter Schmidt kann sich mit dem Gedanken an eine Prozeßflut nicht anfreunden: "Eine Firma, die Ihre Geschäftstätigkeit wegen eines 2000-Bugs einstellen muß, kann zwar Regreßansprüche stellen, dies wird aber im schlimmsten Fall die Firma nicht retten können. Bis ein Regreßanspruch vor Gericht verhandelt ist, können Jahre vergehen. Ist er dann endlich rechtsgültig, kann dies auch zur Liquidation des Lieferanten führen. In all diesen Fällen sind Arbeitsplätze bedroht."

Die Zeit drängt

Wie auch immer die Rechtslage im nächsten Jahrtausend aussehen wird,

der Rest des gegenwärtigen Jahrtausends muß zur Vorbereitung darauf genutzt werden. Und damit sieht es gerade hierzulande nicht sehr rosig aus. Deutschland steht mit seinen Vorbereitungen weltweit nur auf Platz dreizehn (siehe Grafik). Laut den Marktforschern von Gartner Group hat die deutsche Wirtschaft gerade einmal die Problemanalyse abgeschlossen. Den nächsten Schritt, einen fertigen Plan samt nötiger Ressourcen zu erstellen, haben die wenigsten Unternehmen bislang in Angriff genommen. Support-Experte CVSI Services International vermutet, daß rund 15 Prozent der deutschen Firmen die Umstellung auf das Jahr 2000 nicht mehr rechtzeitig schaffen. Die Auguren der Gartner Group halten die volle 2000-Verträglichkeit bei 50 Prozent aller Firmen weltweit für wahrscheinlich.

Dabei drängt die Zeit, denn für viele Bereiche gelten nicht die verbleibenden 17 Monate bis zum 01.01.2000. Bei Finanzbuchhaltungen beispielsweise muß die Jahr-2000-Fähigkeit noch im Jahr 1999 abgeschlossen sein. Für den Fall, daß das Programm im Jahr 2000 nicht mehr läuft, muß der letzte Abschluß spätestens Mitte 1999 erfolgen. Die Bundesversicherungsanstalt für Arbeit geht von einem Arbeitsaufwand von 160 Personenjahren für die Umstellung aus.

Außerdem sind qualifizierte Fachleute für dieses Projekt immer schwieriger zu finden. Der Arbeitsmarkt für Programmierer ist so gut wie leergefegt. Outsourcer, die die Umstellung komplett als Dienstleistung anbieten, sind in der Regel bereits ausgebucht. "Viele Unternehmen möchten die Umstellung zum Geschäftsjahreswechsel durchführen. Da wird es zwangsweise zu erheblichen Engpässen im Bereich Programming, Support und Beratung kommen", vermutet Karl-Heinz Hütten, Geschäftsführer der C.O.P. Computer GmbH in Krefeld.

Das Projekt 2000

Das Problem der Datumsumstellung zum Jahr 2000 sollte von allen Unternehmen, egal ob Konzern oder Kleinstbetrieb, ernst genommen werden. Andreas Zilch, Marktforscher bei der Meta Group Deutschland, meint: "Ich glaube nicht, daß eine Firma vom Jahr-2000-Problem nicht betroffen ist." Hersteller, Systemhäuser und Fachhändler haben begonnen, ihre Kunden intensiv aufzuklären. "Viele Kunden kommen auf uns zu und verbinden die Euroumstellung mit der Umstellung auf das Jahr 2000. Rund 50 Prozent unseres Neugeschäftes entfällt auf diese Kunden. Wir bieten diesen Kunden zunächst einmal Workshops und Informationsveranstaltungen zu beiden Themen an", berichtet Hütten. Und genau hier liegt die Chance zu zusätzlichem Umsatz. Schmidt geht noch einen Schritt weiter. "Wir raten unseren Kunden, die "Jahr-2000-Problematik" als Projekt anzugehen, das heißt, einen Projektleiter zu berufen und ein Gremium aus allen relevanten Abteilungen einzusetzen." Genau diese Vorgehensweise rät auch Softwarehersteller Banyan (siehe Artikel "Unabwendbar und pünktlich", S. 42) und die Initiative 2000, ein Zusammenschluß namhafter Hersteller und Systemhäuser. Fazit: Die Monate bis zur Silvesternacht 1999 bringen noch viel Arbeit, können aber auch eine Chance sein, mit Beratung und Service an seinen Kunden guten Umsatz zu generieren.

Auf jeden Fall aber ist es an der Zeit, die Umstellung auf das neue Jahrtausend ernst zu nehmen. Denn wer bis dahin schläft, wird ab 01.01.2000 vor lauter Reklamationen nicht mehr viel Schlaf bekommen. (gn)

Roton-Manager Schmidt: "Wir geben die Jahr-2000-Garantien der Hardwarehersteller an unsere Kunden weiter."

Meta-Group-Forschungsleiter Andreas Zilch: "Ich glaube nicht, daß eine Firma vom Jahr-2000-Problem nicht betroffen ist."

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