Digital Twins

Doppelt schlau dank schlauer Daten



Dr. Stefan Schwarz leitet bei Teradata den Bereich Industry/Business Consulting & Solutions in Zentraleuropa und berät führende Unternehmen bei ihrer Strategie in Data & Analytics. Der promovierte Wirtschaftsinformatiker forschte an der MIT Sloan School of Management und ist gefragter Sprecher auf IT-Konferenzen weltweit mit den Schwerpunkten Innovation, IoT und datengetriebene Geschäftsmodelle.
Digitale Zwillinge können Unternehmen in Industrie und Produktion viele Vorteile bringen. Um das volle Potenzial der virtuellen Kopien von Produkten und Prozessen auszuschöpfen, müssen diese aber erst ihre Daten beherrschen.

„Houston, wir haben ein Problem“ ist neben Neil Armstrongs Ausspruch über kleine Schritte und große Sprünge der Menschheit das wohl bekannteste Zitat der zivilen Raumfahrt. Das gemeldete Problem – eine Inkompatibilität der Luftreinigungssysteme der Apollo 13-Mission – hatte zuvor niemand erkannt oder gar für relevant gehalten. Nun aber, im Jahre 1970 in einer kleinen Raumkapsel mehr als 300.000 Kilometer von der Erde entfernt, entscheidet die Lösung des Problems über Leben und Tod der kompletten Besatzung. Was tun? Pläne existieren nicht. Die benötigten Werkzeuge und Materialien sind nicht vorhanden. Die Auswirkungen einzelner Eingriffe sind extrem komplex. Es muss improvisiert werden. Der Ausgang ist mehr als ungewiss. Am Ende hat die Apollo 13-Mission mit diesem Krisenfall Geschichte geschrieben.

Digitale Zwillinge können Unternehmen in Industrie und Produktion viele Vorteile bringen.
Digitale Zwillinge können Unternehmen in Industrie und Produktion viele Vorteile bringen.
Foto: metamorworks - shutterstock.com

Digitaler Doppelgänger

Im Zeitalter von Internet of Things (IoT) und Industrie 4.0 kennen Ingenieure heute ähnlich schwierige und komplexe Situationen. Mit zunehmender Digitalisierung und Automatisierung werden immer mehr Dinge und Produktionsabläufe vernetzt, was den Job von Ingenieuren und IT-Fachleuten nicht einfacher macht. Abhilfe verspricht derzeit vor eine Technologie: digitale Zwillinge.

Hat sie bereits vergangenes Jahr für viel Aufmerksamkeit gesorgt, gehört sie für Gartner auch 2019 zu den Top 10 der strategisch wichtigen IT-Trends. Da es bis 2020 mehr als 20 Milliarden digital vernetzte Sensoren und Endpunkte geben wird, könnten in Zukunft ebenso viele digitale Zwillinge existieren, so Gartner. Schließlich stellen sie als digitale Kopie von Dingen aus der realen Welt alle relevanten Informationen mittels einer einheitlichen Schnittstelle zur Verfügung. Dadurch können sie sich quasi nahtlos in die Umwelt ihres Gegenstücks einpassen und Messwerte und Eingangs-Parameter ergebnisgleich verarbeiten. In der Praxis können sie sowohl für bereits real existierende Objekte erstellt werden als auch für Objekte, die erst in der Planung sind.

Simulation als Schlüssel

Auch wenn die Idee von virtuellen Abbildungen alles andere als neu ist, liefern digitale Zwillinge in heutiger Form einen entscheidenden Mehrwert: Im Gegensatz zu früheren Simulationstechniken können sie das Verhalten eines Produktes von der Idee bis zum laufenden Betrieb durchgehend simulieren. Durch solch einen digitalen Zwilling hätte die NASA den Krisenfall der Apollo-13 sicherlich vorhersehen können. Heute setzt die US-Raumfahrtbehörde diese Technologie gezielt ein, haben doch ihre eigenen Forscher den Begriff „Digital Twins“ 2010 erstmals aufgegriffen. In Wissenschaft und Forschung bereits seit vielen Jahren im Einsatz, wachen Unternehmen bei digitalen Zwillingen erst jetzt richtig auf. Laut IDC möchte in den kommenden zwei Jahren die Mehrheit der produzierenden Unternehmen digitale Zwillinge einsetzen. Vor allem für Industrie und Produktion sind die virtuellen Echtzeit-Repräsentationen von Produkten und Prozessen vielversprechend.

Beispiel Maschinenbau: Wurden in der Produktentwicklung physikalische Prototypen meist spät erstellt, können durch digitale Zwillinge virtuelle 3D-Modelle erstellt und flexibel modifiziert werden. Aufwändige und teure Produktschritte können vermieden werden.

Beispiel Windpark: Während im ersten Schritt ein digitaler Zwilling einer Windkraftanlage mittels Sensordaten erstellt wird, erkennen im zweiten Schritt Machine-Learning-Algorithmen Muster in den Lerndaten. Diese Daten aus Historie und laufendem Betrieb liefern wichtige Erkenntnisse über mögliche Schwachstellen bei der Leistung sowie Optimierungsmöglichkeiten der Windkraftanlage und ermöglichen so eine vorausschauende Instandhaltung (Predictive Maintenance).

Daten sind das A und O

Neben den jüngsten Entwicklungen bei Cloud, Simulationstechniken und Rechenleistung wären derartige Plattformen kaum möglich. Ebenso spielen die Innovationen bei der Sammlung und Analyse von Daten in Echtzeit bei der Digital-Twin-Technologie eine entscheidende Rolle. Um es plakativ auszudrücken: Wo keine Daten, da kein digitaler Zwilling.

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Indem Sensoren in Flugzeugen, Windanlagen oder Fabrikmaschinen in der Lage sind, Daten zu produzieren, die mithilfe neuester Analytics- und KI-Methoden ausgewertet werden, lässt sich das Verhalten einer industriellen Anlage oder eines Produkts überhaupt erst nachvollziehen. Daher bleibt das Einspeisen, Verwalten und Analysieren von Daten aus vielen heterogenen Quellen weiterhin eine herausfordernde Aufgabe – bei „Digital Twins“- und IoT-Projekten im Allgemeinen. Bevor Unternehmen mit ihnen starten, müssen sie daher ihre Datenlandschaft auf Herz und Nieren prüfen. Grundlegende Faktoren sind die Datenbasis, Datenbank, Analytics- und KI-Funktionalitäten und Netzwerkkapazitäten, die den enormen Datenfluss in Echtzeit bewältigen können.

Datenanalysten dringend gesucht

Um das volle Potential von digitalen Zwillingen ausschöpfen zu können, müssen Unternehmen bei ihren Daten anfangen. Sie müssen in der Lage sein, die richtigen Daten aus hochintegrierten Systemen über Anlagen und Abteilungen hinweg abzurufen und in Echtzeit zu analysieren. Hierfür müssen sie optimalerweise einen umfassenden „Digital Thread“ erstellen: ein Framework, das eine ganzheitliche Ansicht der Daten über den gesamten Produktlebenszyklus ermöglicht und Protokolle, IP-Sicherheit und Standards festlegt. Last but not least, müssen im Unternehmen die richtigen Datenexperten vorhanden sein, deren Fähigkeiten bei Big Data Analytics, Machine Learning-Modellen und KI-Methoden bei dem weiteren Durchbruch von digitalen Zwillingen eine kritische Rolle spielen werden. Bei der NASA setzt man jedenfalls schon lange auf das Können von Data Scientists, um aus den Daten schlau zu werden und mögliche Fehler besser früher als später zu erkennen.

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