Eine Branche auf der verzweifelten Suche nach dem Homo Informaticus

20.03.1998

MÜNCHEN: SNI-Chef Gerhard Schulmeyer beklagte unlängst, daß der einzelne hierzulande mißtrauische Blicke erntet, sobald er etwas mehr verdient als sein Nachbar. Wo allerdings aufgrund eines akuten Fachkräftemangels fette Gehälter zu haben sind - sprich: sich der Sozialneid so richtig entfachen läßt - , scheint sich unter jungen Leuten immer noch nicht zur Genüge herumgesprochen zu haben. Um personellen Engpässen in der DV-Branche wirkungsvoll entgegenzutreten, fordern Vertreter aus Industrie und Politik zunehmend eine Wende in der Bildungspolitik.Was vier nackte Männer auf einer ganzseitig geschalteten Werbeanzeige eines IT-Dienstleisters zu suchen haben? Eigentlich nichts, möchte man meinen. Doch angesichts eines grassierenden Fachkräftemangels im DV-Bereich ist so mancher Personalverantwortliche mittlerweile derart verlegen, daß er vor keiner Verlegenheit mehr zurückscheut. Und so mancher Personalchef würde den vier Cap-Gemini-Jungs mit schicken Designer-Klamotten allzu gerne aus der Patsche helfen, würden sie nur als IT-Aspiranten an die Tür seines verwaisten Büros klopfen. Computerfachkräfte sind in deutschen Landen immer mehr Mangelware.

Mitarbeiter der Marke Eigenbau

Genaue Zahlen gibt es nicht. Der Bedarf an IT-Profis scheint aber inzwischen enorm hoch zu sein. Dem jüngsten SCS-Stellenmarkt-Index zufolge zeichnet sich auf dem DV-Sektor ein bis jetzt noch nicht erlebter Boom ab. Die Marktstudie, die ihre Ergebnisse auf die Auswertung von Stellenanzeigen in 34 regionalen und überregionalen Zeitungen stützt, zählte im letzten Jahr 32.126 zu besetzende Positionen. Tendenz: weiterhin stark ansteigend. Ende Februar 1998 lag die Zahl der Stellenangebote bereits bei 8.642.

Die Zentralstelle der Arbeitsvermittlung (ZAV) in Frankfurt aktualisierte ebenfalls unlängst ihre Zahlen: Demnach gab es von Januar bis September 1997 noch 3.860 offene DV-Stellen. Schätzungen zufolge sollen in Deutschland mittlerweile 20.000 Programmierer fehlen. Diese Zahl nannte IBM-Chef Hermann-Josef Lamberti kürzlich auf einer Veranstaltung des Clubs Hamburger Wirtschaftsjournalisten.

Der Fachkräftemangel in der Branche ist umfassend und nicht auf einzelne Branchensegmente oder Regionen begrenzt. Ob SAP in Walldorf (2.000 offene Stellen), die Berliner ISDN-Firma Teles, die CPU Softwarehouse GmbH in Augsburg, das Dortmunder Systemhaus Dr. Materna oder die vielen Softwareschmieden vor den Toren Münchens - qualifizierte Fachkräfte werden überall händeringend gesucht.

Wende in der Bildungspolitik gefordert

IT-Kaderschmieden wie die Fachhochschule Isny im Allgäu, die seit 1992 auch Informatik anbietet, liegen hoch im Kurs. "Täglich geht bei uns eine Reihe von Angeboten für unsere Informatik-Absolventen ein. Den Studenten stehen alle Möglichkeiten offen", erklärt Schulleiter Berger. Unterstützt wird die Fachhochschule von Gastdozenten namhafter Unternehmen wie IBM, Oracle oder Sun. Auch haben die Studenten die seltene Chance, bereits während der Ausbildung verschiedene Zertifizierungen zu erwerben.

Aber nur wenigen IT-Kopfjägern gelingt es, auf ihren Streifzügen solch' erstklassige Beute zu machen. Immer mehr Unternehmen verlassen deshalb auf der Suche nach personeller Verstärkung herkömmliche Pfade. Viele DV-Bosse setzen mittlerweile auf den Mitarbeiter der Marke Eigenbau. Nach Ansicht von Firmenchefs - insbesondere im Softwarebereich - wird an den Hochschulen ohnehin zuwenig auf die Erfordernisse der Praxis geachtet. Vectorsoft-Chef Edwin Heinecke übernimmt die praktische Ausbildung seiner Leute selbst. Um Diplom oder Examen schert er sich wenig, statt dessen holt er sich seinen Nachwuchs direkt von der Schulbank ins hessische Softwarehaus. Auch für die Münchner Soft M AG, Anbieter von integrierter Standardsoftware für IBM AS/400, gehört das Training nachrückender Mitarbeiter zum Firmenalltag.

Mehr denn je kommt es heute auf Phantasie und Ideen bei der Personalsuche an. Kreative Köpfe aus den Werbeabteilungen sind auf den Plan gerufen. Erkennbarer Trend: Imageträchtige Werbeanzeigen von IT-Unternehmen geraten mehr und mehr zu attraktiven Stellenofferten für den Ingenieur- und Computernachwuchs. Beispiel Ditec. "Wir unternehmen was! Gegen die Arbeitslosigkeit!", heißt es auf der ganzseitig geschalteten Anzeige. Gleichzeitig gibt das Münchner Systemhaus eine Garantieerklärung (100 Prozent), daß jeder Microsoft-Certified-Systems-Engineer-Absolvent einen Arbeitsplatz erhält. Vorraussetzung ist allerdings, daß die Zertifizierung durch ein Ditec-Bildungszentrum erfolgt.

Angesichts der für den Standort Deutschland prekären Personalsituation im DV-Bereich fordern Vertreter aus Wirtschaft und Gesellschaft eine Wende in der Bildungspolitik. Nach Lamberti ist es ein Unding, daß Schüler in der Oberstufe Mathematik und Naturwissenschaften abwählen können. Man brauche sich dann auch nicht zu wundern, wenn jungen Leuten anschließend der Sinn nach anderem stünde - nach Soziologie, Politologie oder Jura zum Beispiel.

Deutsche Schüler sind Mathe-Nieten

Laut Jörg Menno Harms, Vorsitzender des Fachverbands Informationstechnik im VDMA und ZVEI, können derzeit von 11.000 Studienplätzen eines Informatikjahrgangs nur 6.000 bis 7.000 überhaupt besetzt werden - Tendenz rückläufig. "Der Bedarf der Industrie liegt aber bei 20.000 Informatikern pro Jahr", so Harms weiter. Die Nachfrage ist demnach dreimal größer als das Angebot.

Deutsche Schülerinnen und Schüler sind international die schlechtesten in Mathematik. Zu diesem erschreckenden Ergebnis kam kürzlich die Studie TIMMSS, die die mathematischen Leistungen von Schülern aus 24 Ländern verglich. Im Mittelpunkt der

soeben veröffentlichen Studie wurden vorwiegend die Leistungen von Abiturienten beurteilt Bereits im letzten Jahr landeten siebte und achte Klassen beim Leistungsvergleich nur im Mittelfeld. Der Verantwortliche für die TIMMSS Deutschland, Jürgen Baumert vom Max Planck Institut für Bildungsforschung in Berlin, beklagt denn auch, daß der Mathe-Unterricht von Routine beherrscht wird, Kreativität sei für viele Pädagogen ein Fremdwort.

Keine Frage: Das deutsche Bildungssystem hinkt den Anforderungen der Informationsgesellschaft hinterher. Immer mehr wird jedoch auch in den Reihen der Verantwortlichen erkannt, daß es sich die Wirtschaft nicht länger leisten kann, ein solch riesiges Potential an jungen Talenten zu verschwenden. Der geübte Umgang mit Medien werde in Zukunft so wichtig wie Lesen, Schreiben und Rechnen, erklärte der CSU-Abgeordnete Martin Mayer kürzlich in der EnquÉte-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft" des Bundestags.

Den Schulen fehlt es an Mitteln

An Schulprojekten, die den verantwortungsbewußten Umgang mit dem PC vorbildlich umsetzen, mangelt es nicht. An der Kölner Grüngürtelschule beispielsweise wird der Computer als eines von mehreren Schreibwerkzeugen in allen Grundschulklassen bereits mit Erfolg eingesetzt. Der Computer gilt nicht mehr in allen Bundesländern - wie noch vor ein paar Jahren - in Grundschulen als verpönt. Vielversprechend ist auch das Projekt "Mu-sin" (Münchner Schulen im Netz), das im Februar 1996 startete. Die Schüler der Landeshauptstadt sollen nicht nur mit der Technik des Mediums Internet vertraut werden, sondern auch verantwortungsbewußt an Web-Inhalte herangeführt werden.

Das Münchner Projekt kommt allerdings an einigen Schulen nur schleppend aus den Startlöchern. Hier rächt sich womöglich die Sparpolitik vieler Kultusministerien. Allein die Lehrerkollegien der 15 städtischen Gymnasien Münchens sind mittlerweile arg überaltert, junge Lehrer wurden in den letzten Jahren kaum eingestellt. Und wie, so die berechtigte Frage, kann der Funke der Begeisterung auf die Schüler überspringen, wenn sich Pädagogen in elitärem Dünkel zugute halten, bislang vom PC verschont geblieben zu sein. In der Initiative "Schulen ans Netz" sieht der ZVEI-Vorsitzende Harms zwar einen guten Anfang, "aber eben auch nicht mehr".

Der Mangel an Fachkräften wird sich kurzfristig nicht beheben lassen. IT-Unternehmen müssen sich, bis eine offensive Bildungspolitik erste Früchte trägt, selbst behelfen - sei es, daß sie sich als attraktive Arbeitgeber präsentieren, ihre Kontakte zu Hochschulen intensivieren, in die Sponsorenrolle treten oder dem Konkurrenten trickreich den gewünschten Kandidaten abjagen.

Wie auch immer: Nach der von Cap Gemini geschalteten Anzeige weiß frau jetzt, daß der Männerbody im ausgehenden 20. Jahrhundert oben unbehaart zu sein hat. Bloß weiß frau nicht, wie das entsprechende weibliche Pendant auszusehen hat. Anders gefragt: Wie steht der momentane Aktienkurs von Informatikerinnen? (god)

Für IBM-Chef Hermann-Josef Lamberti ist es ein Unding, daß Schüler in der gymnasialen Oberstufe Mathematik und Naturwissenschaften abwählen können.

Immer mehr Unternehmen greifen zu unkonventionellen Methoden bei der Personalsuche: Ganzseitige Anzeige von Cap Gemini in überregionalen

Tageszeitungen und Fachzeitschriften im März dieses Jahres.

Für HP-Chef und Verbandssprecher Jörg Menno Harms sind Initiativen wie "Schulen ans Netz" zwar ein guter Anfang, "aber eben auch nicht mehr".

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