Todeslisten beschleunigen Auslese bei jungen IT-Firmen

08.03.2000
Der Sinn der so genannten Todeslisten gefährdeter IT-Unternehmen ist umstritten. Allerdings sorgen sie für eine schnellere Bereinigung der überbewerteten Segmente. Wenn die aktuellen Gewinnvorhersagen für 2001 zutreffen, sind viele der Neuen-Markt-Papiere jetzt gar nicht so teuer.

Schon 1998 wussten die Experten, dass die Kurse nur solange stark steigen, wie die originäre Dynamik stimmt. Sobald die Unternehmen ins Stadium des Verteilungskampfes treten, würde es zur Auslese kommen. Nur hat im Überschwang kaum jemand daran geglaubt. Im Segment Business-to-Consumer kündigte sich dies spätestens Anfang 2000 an. Die Kurse liefen nicht mehr so gut wie in anderen Internet-Sektoren. Auch die stark favorisierten Business-to-Business-Firmen (B2B) sehen sich mit dem Problem konfrontiert. Vor wenigen Monaten sprachen einschlägige Publikationen euphorisch noch von 1.000 oder auch 10.000 Prozent Profitchancen. Kein Tag ohne neue Kursraketen, und dann nichts wie rein. Jetzt präsentieren sie mit Vorliebe aktuelle Todeslisten für Internet-Papiere. Auch alte Sensationen machen Kurse.

Cashburn: Wettlauf gegen die Zeit

Das Muster entstammt der Kalkulation der Biotech-Analysten. Die hantieren seit jeher mit Begriffen wie Cashburn - oder auch Burnrate genannt - und dem Cashleft. Darin kommt zum Ausdruck, wie viel Geld Firmen jährlich für Forschung und Entwicklung brauchen oder "verbrennen" und wie viel sie aus ihren Börsengängen noch auf dem Konto haben. Häufig ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Kommt es nicht zu verkaufsfähigen Produkten oder Verfahrenstechniken, so sind die Kassen irgendwann eben leer. Die Burnrate taugt nun auch zur Bewertung junger IT-Firmen. Angefangen damit hatten verschiedene US-Börsendienste voriges Jahr. Die amerikanische Pegasus-Research-International prüfte dann diesen März und Juni im Auftrag der Wall-Street-Finanzzeitung "Barron’s" gleich 207 mögliche Kandidaten, darunter so prominente wie Amazon, Ariba, Commerce One, Doubleclick, Exodus, Lycos, Priceline, Value-Amerika, Ventro und Vertical-Net sowie die Online-Wertpapier-Broker Ameritrade und E-Trade und den Finanzmarktplatz Multex.

Kürzlich berichtete die Consulting-Gruppe Price-Waterhouse, dass am deutschen Neuen Markt jedes siebte Internet-Unternhmen in den nächsten zwei Jahren gefährdet sei. Gemunkelt wurde über Cybernet, Fortunecity, Gigabell, Musicmusicmusic, Artnet, Ebookers, Ricardo und Buch.de.

Inzwischen hat praktisch jede Börsenpublikation eigene Burnout-Listen erstellt. Die Opfer stammen vorwiegend aus dem Business-to-Consumer-Bereich (B2C), also dem Segment der Online-Kaufhäuser (Online-Merchants), den Internet-Marktplätzen und Gemeinden für private Nutzer. Es gibt zu viele davon, und ihr Ertragspotential wurde überschätzt. Die Anleger verlangen nun Rentabilität statt Wachstum mit Defiziten ohne Ende.

Internet-Branche steht auf unsicheren Füßen

Die Konsolidierung der Internet-Branche war längst überfällig. Experten erklären seit Jahr und Tag, dass mindestens 70 Prozent der Neugründungen mangels Rentabilität von der Bildfläche verschwinden dürften, sei es in Form von Konkursen oder Übernahmen. Sicher wird die sensationelle Aufmachung der Todesliste den Ausleseprozess bei jungen IT-Firmen aller Bereiche beschleunigen. Inzwischen wurde manches Urteil jedoch relativiert, weil die meisten angesprochenen Unternehmen binnen drei Jahren Gewinne erzielen oder sich mit anderen zusammengetan haben dürften. Mit anderen Worten, die Frage Sein oder Nichtsein hätte sich nicht so streng gestellt. Dafür gibt es an der Börse ab jetzt den Bonus fürs Überleben, der sich in gewaltigen Anstiegen niederschlägt, sobald ein Wackelkandidat schwarze Zahlen präsentiert.

Laut den aktuellen Prognosen werden die verschiedenen IT-Sektoren am Neuen Markt von diesem auf nächstes Jahr teils beträchtliche Gewinnzunahmen erzielen. Der Bereich Hardware kalkuliert beispielsweise mit 72 Prozent Steigerung (siehe Grafik).

Und die Gewinner sind ...

Der junge Sektor Netzinfrastruktur wird insgesamt wahrscheinlich die Gewinnzone erreichen. Das gleiche gilt für die IT-Sicherheit. Nachhaltige Besserung dürfte auch im Bereich Software-Entwicklung zu erwarten sein. Von 35 Unternehmen schreiben dieses Jahr 14, nächstes Jahr nur noch fünf Firmen rote Zahlen. Bei den 15 Internet-Software-Gesellschaften ist das Verhältnis mit 13 rot dieses und acht rot nächstes Jahr weniger günstig. Angespannt bleibt die Lage bei den Internet-Services. Von 26 Firmen produzieren aktuell mindestens 18 teils dicke Verluste, in 2001 werden es noch 14 sein. Dort und bei den Internet-Händlern (Adori, Artnet.com, Buch.de, Bücher.de, DCI und Ricardo) erscheinen die Ertragsaussichten besonders dünn. Natürlich werden die Vorhersagen noch oft geändert. Die Tendenz bei den am Neuen Markt gelisteten IT-Unternehmen deutet insgesamt jedoch auf eine nachhaltige Ertragserholung hin. Daran werden auch einzelne Pleiten nichts ändern. (kk)

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