Leader, Manager und Experten gesucht

Zu viele Visionäre ruinieren die Firma



Renate Oettinger war Diplom-Kauffrau Dr. rer. pol. und arbeitete als freiberufliche Autorin, Lektorin und Textchefin in München. Ihre Fachbereiche waren Wirtschaft, Recht und IT. Zu ihren Kunden zählten neben den IDG-Redaktionen CIO, Computerwoche, TecChannel und ChannelPartner auch Siemens, Daimler und HypoVereinsbank sowie die Verlage Campus, Springer und Wolters Kluwer. Am 29. Januar 2021 ist Renate Oettinger verstorben.

Zu viele "Visionäre" schaden der Firma

Ähnliche Tendenzen entdeckt man zuweilen in etablierten Unternehmen. Hierfür ein Beispiel: Vor drei Jahren baten wir im Rahmen eines Management-Audits die 250 mittleren und oberen Führungskräfte eines Konzerns, eine Selbsteinschätzung vorzunehmen. Das Ergebnis: Fast 90 Prozent der Führungskräfte sahen sich primär als "Leader". Zudem betrachteten sie das Entwickeln von Zukunftsvisionen als zentrale Aufgabe und Fähigkeit einer guten Führungskraft. Angesichts dieses eindimensionalen Führungsverständnisses war es kein Wunder, dass die Unternehmensspitze über gravierende Qualitätsprobleme klagte und darüber, dass bei Projekten die definierten Ziele meist nicht erreicht werden. Denn niemand fühlte sich hierfür verantwortlich.

Deshalb nochmals der Hinweis: Jedes Unternehmen braucht neben Leadern und Managern auch klassische Vorgesetzte. Und: Jede gute Führungskraft vereinigt letztlich alle drei Führungstypen in sich.

Dies sei an einem Beispiel illustriert. Nehmen Sie die obersten Lenker von Unternehmen - ganz gleich, ob ihr offizieller Titel Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzender lautet. Als eine ihrer originären Aufgaben wird oft das Entwickeln der Visionen genannt, die ihrem Unternehmen den Weg in die Zukunft weisen. Das trifft zu.

Doch was nutzt einem Unternehmen die Vision "Wir wollen der Technologieführer in unserer Branche werden" oder "Wir wollen uns zum Systemanbieter entwickeln", wenn die oberste Führung nicht zugleich die Meilensteine auf dem Weg zum Ziel markiert? Oder wenn sie nicht sicherstellt, dass die nötigen Strukturen geschaffen werden, um die aus dem Ziel resultierenden Aufgaben zu erfüllen? Dann bleiben die Visionen Tagträume. Und die verantwortlichen Unternehmensführer? Sie können sich in absehbarer Zeit neue Stellen suchen, weil auch ihre Leistung letztlich an den Ergebnissen gemessen wird. Also müssen die obersten Unternehmensführer auch Managementfähigkeiten haben. Doch nicht nur dies! Sie müssen auch, wenn Entwicklungen falsch laufen - zum Beispiel, weil Bereichsleiter ihren Job nicht adäquat erfüllen - den Verantwortlichen klar sagen: So nicht! Sie müssen sich im Bedarfsfall also auch mit Fachaufgaben befassen (selbst wenn sie diese nicht erledigen). Sonst nehmen sie ihre Steuerungsfunktion nicht wahr.

Auch Schichtleiter brauchen Visionen

Ähnlich verhält es sich bei den Führungskräften am Fuß der Hierarchie - zum Beispiel bei den Schichtleitern in der Produktion. Ihre Kernaufgabe ist es zwar nicht, Visionen zu entwickeln. Sie müssen vielmehr primär dafür sorgen, dass ihr Team seine Funktion in der Organisation erfüllt. Trotzdem müssen auch sie Managerqualitäten haben - unter anderem, um die Prozesse und Abläufe in ihrem Bereich so zu gestalten, dass die einzelnen Fachaufgaben effektiv ausgeführt werden.

Doch dies genügt nicht. Sie müssen auch allein oder im Dialog mit ihren Vorgesetzten oder Mitarbeitern eine Vision für ihr Team entwickeln können - zum Beispiel, indem sie sich fragen: Was folgt für uns daraus, dass unser Unternehmen Technologie- oder Qualitätsführer werden möchte? Das heißt, auch Schichtleiter müssen die drei Führungstypen in sich vereinen - obwohl sie ganz andere Aufgaben als Konzernlenker haben.

Keinesfalls sollte man deshalb in der Führungsdiskussion die drei Rollen Leader, Manager und Fachexperte mit Führungsaufgaben gegeneinander ausspielen. Zielführender ist es, sich zu fragen:

  1. Welche Bedeutung haben die drei Rollen aufgrund meiner Funktion in der Organisation grundsätzlich für mein Führungshandeln?

  2. Welche Relevanz haben sie in der aktuellen Führungssituation? Und:

  3. Wo sollte ich aufgrund meiner Persönlichkeit und Verhaltenspräferenz noch an mir und meinem Verhalten arbeiten?

Diese nüchterne Betrachtung bringt Unternehmen und Führungskräften mehr, als einzelne Führungstypen oder -rollen zu idealisieren. Denn dies führt vielfach dazu, dass alle Führungskräfte einer Organisation, abhängig vom Zeitgeist, entweder nur noch Manager oder nur noch Leader sein möchten oder sich gerade in Krisenzeiten nur noch wie (autoritäre) Vorgesetzte gebärden. Das zerstört die Führungs-Balance in Unternehmen, die für das Bewältigen von Herausforderungen nötig ist.

Weitere Infos und Kontakt: Georg Kraus ist geschäftsführender Gesellschafter der weltweit tätigen Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner, Bruchsal (www.kraus-und-partner.de),für die über 100 Berater, Trainer und Experten arbeiten. Der diplomierte Wirtschaftsingenieur ist Autor mehrerer Change- und Projektmanagement-Bücher. Seit 1994 ist er Lehrbeauftragter an der Universität Karlsruhe, der IAE in Aix-en-provence und der technischen Universität Clausthal.

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