Anwendungen Web-fähig: Wie gehen Systemhäuser in den neuen Markt?

11.07.1997
MÜNCHEN: Eine der größten Herausforderungen der Industrie wird in den nächsten Jahren sein, ihre bereits existierenden Anwendungen zusammen mit neuen Anwendungen ins Web zu integrieren. Der völlig neue Markt des Applikations-Deployments entsteht. Wie sich Systemhäuser auf diesen Markt vorbereiten können, stellt Autor Alain Blaes* dar.Was tun Unternehmen im Zeitalter von Web, Intranets, Internet und Extranets, mit den zig Millionen Codezeilen, die sie in der Vergangenheit produziert haben? Sind die vielen Cobol-, 3270-, CICS-, aber auch Visual-Basic-, C++- und SQLWindows-Applikationen überflüssig geworden? Müssen sie wirklich von Grund auf neu entwickelt werden? Wer stellt diese astronomischen Budgets zur Verfügung?

MÜNCHEN: Eine der größten Herausforderungen der Industrie wird in den nächsten Jahren sein, ihre bereits existierenden Anwendungen zusammen mit neuen Anwendungen ins Web zu integrieren. Der völlig neue Markt des Applikations-Deployments entsteht. Wie sich Systemhäuser auf diesen Markt vorbereiten können, stellt Autor Alain Blaes* dar.Was tun Unternehmen im Zeitalter von Web, Intranets, Internet und Extranets, mit den zig Millionen Codezeilen, die sie in der Vergangenheit produziert haben? Sind die vielen Cobol-, 3270-, CICS-, aber auch Visual-Basic-, C++- und SQLWindows-Applikationen überflüssig geworden? Müssen sie wirklich von Grund auf neu entwickelt werden? Wer stellt diese astronomischen Budgets zur Verfügung?

Die Antwort ist klar: Neuentwicklungen auf der ganzen Linie sind allein aus finanziellen und meist auch aus organisatorischen Gründen nicht durchführbar. Bestehende Applikationen mit Mission-Critical-Charakter, die meist auf Großrechnerplattformen laufen, sind in der Regel so komplex, daß eine Neuentwicklung, selbst wenn sie finanzierbar ist, zunächst einmal den hohen, im Laufe der Jahre perfektionierten Sicherheits- und Verfügbarkeitsanforderungen nicht entsprechen könnte. Allein aus diesem Grund wäre eine Neuentwicklung die falsche Entscheidung. Andererseits heißt dies zwar auch, weitere Jahre mit antiquierten Programmiersprachen zu leben; das ist dann aber wohl das kleinere Übel.

Der Anbietermarkt ist noch nicht organisiert

An der Web-Fokussierung kommt indes niemand vorbei. Neben Vorzeigeprojekten wie die des berühmten Buchhändlers Amazon (www.amazon.com) offerieren mittlerweile sogar viele Banken Web-Seiten, auf denen übliche Finanztransaktionen wie Überweisungen oder Daueraufträge durchgeführt werden können (www.vereinsbank.de, www.avance-bank.de, usw.). Sie tun es, obwohl die Daten, die dabei erzeugt werden, extrem sicherheitskritisch sind.

Solchen Institutionen unterstellt man prinzipiell, genügend Kapital für den Schritt ins Web zur Verfügung stellen zu können. Wie aber steht es mit "normalen" Unternehmen: Wollen sie überhaupt ihre (kritischen) Daten und entsprechende Applikationen ins Web stellen? Und wie kann eine Web-Strategie für sie aussehen?

"Einige wenige Unternehmen haben sehr klare Vorstellungen, sie sind sehr zielsicher", erklärt Karsten Mickeleit vom Systemhaus Carano in Berlin (www.carano.de), "die meisten anderen haben zwar ein gewisses Bewußtsein fürs Web, sind aber noch nicht soweit. Sie brauchen Zeit."

Der Grund für das Zögern: Einerseits sei der "Anbietermarkt noch recht unorganisiert", so Mickeleit, andererseits gingen viele DV-Verantwortliche fälschlicherweise davon aus, bestehende Client/Server-Lösungen könnten nicht ins Web gestellt werden. Hier sei mittelfristig noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

Großunternehmen suchen nach Web-Lösungen

Für viele Großunternehmen indes ist das Internet ein Segen. Mickeleit: "Sie haben meist erhebliche Performance- und Heterogenitätsprobleme und müssen deshalb aus reiner betrieblicher Notwendigkeit ins Web."

"Das Interesse vor allem des Mittelstands ist generell vorhanden", bestätigt Peter Molch vom Systemhaus Concepta in Erkrath (www.concepta.de), "aber oft gibt es keine konkrete Vorstellung, was zu tun ist. Es ist mitunter schwierig, das Thema präzise zu vermitteln." Er hat die Erfahrung gemacht, daß größere Unternehmen das Thema Web beherzter und zielorientierter angehen.

Dr. Dimiter Nasev von ML Systems (www.mlsystems.de), einem Systemhaus in Köln, das fast nur Großkunden betreut, unterstreicht, daß "das Web keine Negation zur klassischen Client/Server-Technologie darstellt. Vielmehr vereinfacht es die Verteilung von Daten und Programmen maßgeblich." Aus diesem Grund bestünde bei fast allen ML-Kunden "der klare Bedarf, zumindest Teillösungen von komplexeren Aufgaben ins Web zu stellen". "Tatsächlich besteht großes Interesse am Web,

vorwiegend wegen der Plattformunabhängigkeit", bestätigt Ingo E. Czok, Geschäftsführer des Systemhauses Tembit Software in Berlin (www.tembit.com).

Systemhäuser haben gute Chancen

Der Markt für Web-Applikationen ist also im Werden. Eine wirkliche Massenbewegung wird aber möglicherweise erst mittelfristig entstehen: "Der Intranet-Markt braucht noch eineinhalb bis zwei Jahre", erklärt Claus Wenicker, Leiter der Systemintegration and Delivery bei AT&T Communication Services in Rösrath.

Für Systemhäuser, die bisher im klassischen Client/Server-Business tätig waren, bedeutet dies ein völlig neues Tätigkeitsfeld und damit eine neue Umsatzquelle: "Es wird garantiert einen neuen Schub geben", ist sich Mickeleit sicher. Und Nasev glaubt: "Unser Client/Server-Geschäft läßt nicht nach, aber das neue Web-Geschäft kommt dazu." Molch ist sich etwas unsicher und mag eine potentielle Umsatzsteigerung nicht genau einschätzen, er weiß aber, daß

"Web-Entwicklung on top" kommt.

Sollen sich Systemhäuser als "Web-Companies" positionieren? Für Mickeleit ist das die Zukunft, andere wie Molch wollen sich nicht so weit vorwagen: "Client/Server und Web soll in einem Topf bleiben", und auch Wenicker ist der Meinung, "beides sollte nicht getrennt werden."

Neben der Positionierungsfrage, die eher Marketing-Charakter hat und jedes Systemhaus je nach Ausprägung für sich selbst entscheiden muß, ist das weitaus bedeutendere Thema der Aufbau einer Web-orientierten Organisation sowie des entsprechenden Know-hows.

Die Web-Technologie ist nicht nur "keine Negation" zum Client/Server-Computing, wie es Nasev ausgedrückt hat, sondern vielmehr eine logische Erweiterung um eine zusätzliche Plattform: "Vom Drei- zum Vier-Schichten-Modell", könnte die vereinfachte Formel heißen. Web-Computing ist im Grunde nicht anderes als Client/Server, nur eben im Internet und auf der Basis der Internet-standards wie TCP/IP oder HTML.

Deshalb "passiert intern gar nicht so viel" bei Carano, "weil die Technologie nicht viel anders ist", meint Mickeleit. "Wir müssen vor allem Klassenbibliotheken so umschreiben, daß wir sie innerhalb von n-Schichten-Architektur einsetzen können."

Der gleichen Meinung ist Czok: "Die Applikationsprogrammierung wird von den gleichen Leuten gemacht, weil die Webtechnik für einen Informatiker leicht verständlich ist." Oliver Greb, früherer Groupware Division Manager bei Data Design in Hamburg, sieht es allerdings anders: "Es müssen neue, dedizierte Web-Entwickler her. Deren Mentalität ist anders, sie sind offener."

"Bei uns ist es ein fließender Übergang", sagt Nasev, "alle unsere Mitarbeiter, die Client/Server-Erfahrung haben, werden auch ohne große Umschulung komplexe Web-Applikationen erstellen." Molch schlägt in die gleiche Kerbe und betrachtet die Vorgehensweise so: "Ein Entwickler muß stets im Hinterkopf haben, daß eine neuzuerstellende, klassische Client/Server-Applikation später vielleicht ins Web kommt und entsprechende Web-Funktionalität braucht."

Alte und neue Applikationen zusammen ins Web

Es geht aber nicht nur um neue Applikationen, sondern auch um bestehende. Diese werden allerdings kaum zu 100 Prozent übernommen werden können - schließlich bietet das Web neue, technische Möglichkeiten der Datendarstellung und des Datenhandlings, die man auch ausnutzen sollte. Meist ist es wünschenswert, bestehende Applikationen mit neuen im Web zu verbinden. Ein Beispiel:

Ein Autovermieter bietet eine WebSeite an, auf der Kunden Fahrzeuge buchen beziehungsweise reservieren können. Diese Web-Seite muß neu erstellt werden. Diese Buchungsdaten werden an die existierende Finanzbuchhaltung weitergeleitet. Deshalb muß nicht gleich die ganze FIBU aufs Web; andererseits ist es auch nicht nötig, eine Web-FIBU neu zu entwickeln; aufgrund einer bestehenden Geschäftslogik verarbeitet die FIBU diese Daten weiter.

Wer eine bestehende Applikation Web-fähig machen will, muß sich also daher darauf einstellen, auf jeden Fall das Benutzerinterface neu zu entwickeln: "Aus diesem Grund haben wir Grafiker eingestellt, die mit den Informatikern zusammenarbeiten", erklärt Czok von Tembit.

Handelt es sich bei der Ausgangsapplikation um eine 3270-Terminal-Anwendung, ist der Aufwand sicher geringer als bei einer ausgefeilten Windows-Applikation, die sich der unübersehbaren Vielfalt von Controls bedient.

Wurde die Ausgangsapplikation "sauber" programmiert, also für den Einsatz in einer mehrschichtigen Architektur konzipiert, läßt sich die Geschäftslogik mit allen Verarbeitungen und Datenzugriffen von der Benutzeroberfläche trennen. "In diesem Fall", erklärt Dieter Arnoth, Marketingleiter von Centura Software in München, "besteht die Aufgabe des Entwicklers darin, die alte Benutzeroberfläche einfach durch den Browser nachzubilden, und dieser kann die vorhandenen Prozeduren nutzen."

Bestehende Applikationen mit neuen ergänzen und gemeinsam ins Web zu stellen heißt also die Aufgabe. Dies ermöglichen sogenannte Deployment-Tools. Anbieter solcher Werkzeuge sind etwa Bluestone (www.bluestone.com), Wallop (www.wallop.com), Prolifics (www.prolifics.com) oder Centura Software (www.centurasoft.com) mit Foresite. Dieses Tool beispielsweise kann neue und auch bestehende ActiveX-, ODBC-, CICS- oder 3270-Anwendungen miteinander integrieren und ins Web stellen. Der Vorteil solcher Tools ist, daß beispielsweise eine 3270-Applikation nicht verändert werden muß. Für ein Systemhaus bedeutet dies zwar weniger Entwicklungs-Dienstleistung, jedoch ist ein solches Konzept besonders bei sicherheitsrelevanten Aspekten von erheblicher Bedeutung: "Alle Rechte, Zugriffe und Sicherheitsmechanismen bleiben erhalten", so Nasev - für den Kunden von unschätzbarem Wert. 80 Prozent des Migrationsaufwands besteht dann meist darin, die GUI im Browser nachzubilden sowie neue Elemente für die Benutzeroberfläche zu produzieren. Die restlichen 20 Prozent des Migrationsaufwands betreffen die Erweiterung der Geschäftslogik. Der Kern der Applikationen bleibt aber, wie erwähnt, intakt.

Systemhäuser sollten aktiv das Web verkaufen

Das Systemhaus muß auf andere Punkte achten, wenn es Anwendungen ins Web legt: Sind solche Deployment-Plattformen wirklich skalierbar? Im Rahmen einer reinen Intranetlösung spielt dies weniger eine Rolle als im offenen Internet, wo die Menge der Zugriffe sich schnell verändern kann. Wie sieht es mit der Ausfallsicherheit dieser Plattformen aus? Besonders Internetapplikationen müssen 24 Stunden am Tag ohne Verzögerung laufen.

In den nächsten drei Jahren werden rund 70 Prozent der Unternehmen Intranets aufbauen, prognostizieren Marktforscher wie die Gartner Group. Der Bedarf an Dienstleistung ist entsprechend groß. Systemhäuser tun gut, sich darauf vorzubereiten, auch wenn sie heute noch vielfach mit der Entwicklung konventioneller Lösungen eingedeckt sind: Der Markt der nächsten Jahre muß bereits heute vorbereitet werden. Zu warten, um sich auf die Web-Technologie zu konzentrieren, "wäre ein großer Fehler", so Molch, "unseren Kunden verkaufen wir heute schon das Web sehr aktiv".

* Alain Blaes ist Geschäftsführer der Agentur PR-COM in Martinsried bei München.

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