Klimakrise und Digitalisierung

Wirkliche Transformation startet auf Messen



Jan Nintemann ist examinierter Gymnasiallehrer. Er studierte Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Philosophie. In den 1990er Jahren hat Nintemann NTplus (heute: Also) und die Teleprofi-Fachhandelskooperation gegründet. Seit über 20 Jahren ist Nintemann Inhaber der Messe-Agentur Global Fairs in Osnabrück. Genauso lang organisiert er den Reseller Park auf der IFA in Berlin. Seit 2012 betreibt Nintemann Gemeinschaftsstände zum Themenkomplex SmartHome/ SmartBuilding auf der IFA Berlin, auf der Light+Building und der ISH Frankfurt sowie auf der Angacom Köln.
Digitale Messen ergänzen Vor-Ort-Veranstaltungen gut, aber sie können sie nicht ersetzen. 2022 sollte man deswegen eine hybride Strategie im Bereich „Ausstellungen und Kongresse“ einschlagen.
Im Frühherbst 2021 konnten einige Messen mittels der AHA-Regeln noch durchgeführt werden, etwa die Nürnberger IT-Sicherheitsmesse it-sa.
Im Frühherbst 2021 konnten einige Messen mittels der AHA-Regeln noch durchgeführt werden, etwa die Nürnberger IT-Sicherheitsmesse it-sa.
Foto: NuernbergMesse / Heiko Stahl

Auch wenn die so nicht erwartete aktuelle Corona-Situation eine weitgehende Kontaktreduzierung zum Winter hin wieder notwendig machen, so sind sich die Wissenschaftler dennoch einig in der Einschätzung, dass aufgrund ausreichend vorhandener Impfstoffe - mit zukünftigen Anpassungen an mutierte Corona-Viren - kurz- bis mittelfristig die Pandemie-Situation wieder kontrollier- und beherrschbar sein wird. Spätestens ab Frühjahr 2022 wird sich die Lage entspannen - sofern jetzt die Impf-Akzeptanz in der Bevölkerung das notwendige Maß zur Eindämmung der Pandemie erreicht - worauf die neuesten Entwicklungen hindeuten.

Der aktuellen Krisensituation zum Trotz sollten Unternehmen gerade jetzt nicht versäumen, nach langer Abstinenz wieder über Messeauftritte 2022 nachzudenken und sie einzuplanen. Denn die Erfahrung hat uns gezeigt, dass die Corona-Welt nach einem Quartal schon wieder völlig gegenteilig und entspannt aussehen kann. Im Frühherbst 2021 konnten einige Messen mittels der bewehrten Hygiene- und Kontrollmaßnahmen recht sicher und unproblematisch durchgeführt werden, etwa die Nürnberger IT-Sicherheitsmesse it-sa. Die neuartige Omicron-Variante und der ungenügende Anteil an geimpften Personen in Deutschland führte im Spätherbst 2021 leider zur Absage der meisten Fachveranstaltungen vor Ort.

Digitale Messen 2021 - ein erstes Fazit

Online-Messen hatten in der Corona-Zeit wahrlich ihre erste große Chance und Bewährungsprobe. Die gemachten Erfahrungen hieraus führen aber, stark vereinfacht formuliert, zu folgendem Ergebnis: digitale Messen sind gute, ergänzende und vor allem permanente Informations- und Kommunikationsplattformen - aber sie generieren kaum Business - so die vielfältigen Aussagen aus allen Branchen.

Marktplätze waren nicht erst im Mittelalter die Bühnen und Impulsgeber gesellschaftlichen Treibens und Wandels; spätestens mit Beginn der Industrialisierung entwickelten sie sich zu Messen und wurden die entscheidenden Marktplätze für Industrie und Handel, um Abnehmer für ihre Produkte zu finden und zu selektieren - auf der Kehrseite suchen auch Wiederverkäufer hier die für sie besten Kontakte und Lieferanten.

Die Fachbesucher sind die bedeutendste Zielgruppe für Messen - und sie sind als Fachbetriebe auch heute trotz des stark gewachsenen Online-Handels umso unverzichtbarer, je komplexer und systemrelevanter - und somit auch lokaler - Produkte und Lösungen zu beraten, -installieren oder zu integrieren sind. Auf diese Einkaufs-Entscheidungsträger als Haupt-Messebesucher-Zielgruppe kann kein Tech-Hersteller und System-Komponentenanbieter verzichten - selbst in Consumer-Bereichen nicht, wo längst vernetzte Entertainment-, Kommunikations-, Security-, Licht-, Klima- und Küchensysteme (Smart Home und Smartbuilding) Einzug gehalten haben.

B2B-Marktteilnehmer suchen, finden und erarbeiten sich in persönlichen Gesprächen auf den Leit- und Fachmessen ihre ständig upzudatenden Geschäftsmodelle und Handlungsweisen mit bestehenden oder neuen Anbieter-Kontakten und Lösungen bei den Messe-Ausstellern - und mit den mit Ihnen vernetzten Kollegen, die sie ebenfalls dort antreffen - zwecks Erfahrungsaustausch und Einschätzung künftiger Trends.

Nur auf diesen öffentlichen und medienwirksamen Messeplattformen kann die eigentliche Transformation in Richtung Digitalisierung und von Maßnahmen gegen die Klima- und Umweltkrise endlich auch in der Breite wirksam - sprich: in die Tat umgesetzt werden. Die Transformationsnotwendigkeit zur Einhaltung der Klima-Ziele und zur "Durch-Digitalisierung" unserer Gesellschaft (auch ein wichtiger Beschleunigungsfaktor auf dem Weg zur Klimaneutralität) sind als zwingend und dringendst erforderlich von allen Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft beurteilt worden - alle Parteien (außer der AFD) überbieten sich derzeit in ihren Wahlprogrammen, wie die Transformation möglichst schnell und nachhaltig umgesetzt werden kann.

Wenn jedoch die entscheidenden Impulsgeber von Transformationen in einer freien Marktwirtschaft - das sind die Fach- und Leitmessen dieser Welt - diese neuen grünen und digitalen Technologien und Lösungen gar nicht der Dringlichkeit angemessen erreichen, wird die Transformation mit Blick auf den Zeitdruck scheitern. Heutzutage ist viel von der "Zähigkeit unserer politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systeme" und der dringend notwendigen "Beschleunigung durch Digitalisierung" die Rede.

Lösungen zur Bewältigung des Klimawandels werden das Messegeschehen dominieren

Die komplette Umstellung unserer Wirtschaft auf eine klimaneutrale Welt können wir nicht bei Amazon & Co kaufen. Es liegt nämlich nicht an den technologischen Möglichkeiten und den finanziellen Mitteln, dass wir klimaneutrales Handeln nicht eher hinbekommen haben, sondern an der bisherigen beharrlichen Abstinenz von Klima- und Umweltthemen samt der dazugehörigen Digitalisierungsaspekte in ihrer ganzheitlich notwendigen Art und Weise auf den Fach- und Leitmessen dieser Welt. Der Klimawandel war bis Eintritt der Corona-Pandemie ein Tabu auf Messen und wurde nicht kommuniziert. Es hieß: Kritische Themen wie Umwelt- und Klimakrisen könnten dem Geschäft auf der Messe und dem daraus folgenden Medienrummel schaden."

Jetzt scheint der Kippschalter umgelegt zu sein: Maßgeblich durch die Initiativen der Fridays For Future-Bewegung und den zwischenzeitlich belastbaren und in der breiten Öffentlichkeit auch anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge ist gerade während der global wirksamen Corona-Pandemie eine breite Bewusstseins-Änderung eingetreten - begünstigt noch durch die vermehrten aktuellen Umwelt- und Wetterkatstrophen - nun auch direkt vor unserer Haustür. Die Klimakrise erscheint plötzlich zum Greifen nah und nichts bewegt die Menschen mehr als die allerorts nun ins Bewusstsein gedrungene Umweltkatastrophe, die das Leben zukünftiger Generationen tatsächlich gefährdet. Sie zu ignorieren ist jetzt zu einem geschäftsschädigenden Aspekt geworden. Neue Produkte und Lösungen sowie viele neue grüne Ideen, die zur Klimaneutralität einen Beitrag leisten können, gehören ab sofort zu den nachgefragtesten Produkten überhaupt: Nach Corona ist nicht vor Corona.

Die aktiv geförderte Kommunikation von Themen rund um die Klimakrise und der Umweltverträglichkeit von Produkten und Lösungen auf den Marktplätzen bzw. Messen ist zudem von entscheidender Bedeutung für den Vertrauensaufbau zum Kunden hin (z.B. Stichwort "Greenwashing") und unterstützt gerade diejenigen Anbieter auf der Messe, die in zukunftsorientierte Lösungen investiert haben - und dementsprechend auch auf einen "Return on Investment" (RoI) nicht nur angewiesen sind, sondern ihn auch verdient haben.

Die Transformation in eine klimaneutrale Welt mit parallel einhergehender Durchdigitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelten wird die Mutter aller Transformationen der Zukunft sein - eine Dauer-Transformation - ein permanenter Prozess des Wandels, um die stetig wachsende Klima-Überhitzung und die bereits erfolgte Umweltzerstörung zu stoppen und seine Folgen zu reparieren. Alle relevanten technologischen Erfindungen inklusive der Digitalisierung haben sich in Zukunft diesem Primat unterzuordnen - weil die Marktnachfrage es so regelt - oder sei es auch per Dekret. Das Besondere: Die Kontrolle über die Geschwindigkeit der Transformation ist uns entglitten - sie wird jetzt maßgeblich bestimmt durch die Klimaentwicklung selbst und seinen unmittelbaren Folgen, die wir auf allen Kontinenten der Welt schon zu spüren bekommen haben - und noch mehr spüren werden.

Warum die CeBIT so erfolgreich war

Immer wenn Gesellschaften besonders großen und unausweichlichen Veränderungen ausgesetzt sind, ist die Zeit stark wachsender Leit- und Fachmessen gekommen. Dies haben uns eindrucksvoll die 80-er und 90-er Jahre gezeigt, als die Computerwelt über die Wirtschaft "hereinbrach" und weltweit alle Unternehmen sowie die ganze Gesellschaft sich vor die Aufgabe gestellt sah, sich mit Computern auszurüsten - will man im Wettbewerb bestehen. Damals stieg die CeBIT innerhalb von nur 1,5 Dekaden zur weltgrößten Messe überhaupt auf. Der Bedarf an Orientierung, Beratung, neuen Kontakten und Geschäftsmodellen sowie verlässlichen Partnern war gewaltig - ebenso die Kreativität vieler Startups und Unternehmer - die unsere jetzige Krisenzeit mehr denn je benötigt.

Aufgrund der herangerückten realen Klimakrise - inzwischen weltweit von nahezu allen seriösen Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik als die dringendste und größte Herausforderung unserer Zeit eingestuft - stehen uns und der ganzen Welt die unaufschiebbar gewaltigsten Transformationen ins Haus, die jemals die zivilisierte Menschheit zu bewältigen hatte - und zwar in allerkürzester Zeit. Nur eine Wahlperiode oder maximal eine Dekade Zeit bleibt uns noch, ausreichenden Einfluss auf den Klimawandel zur Erreichung der einklagbaren Pariser Klimaziele zu nehmen - danach nimmt die stetig weiter sich erhitzende Atmosphäre unkontrolliert weiter Fahrt auf, ohne dass wir dies noch in ausreichender Weise stoppen könnten.

Es geht schlicht "um das Überleben der ganzen Menschheit" - stellte nach ausführlicher wissenschaftlicher Beratung auch die Europäische Kommission vor zwei Jahren fest - und ist seitdem dabei, mittels ihres "New Green Deal"-Konzeptes all die inzwischen notwendig gewordenen regulierenden Vorgaben für Politik, Wirtschaft, Technik, Natur und Handeln - sprich für alle Lebens- und geschäftlichen Bereiche - zu erarbeiten, die unabdingbar sind, um, das 1,5-bis-2-Grad-Ziel noch irgendwie einhalten zu können - deren Umsetzung für die Mitgliedsstaaten in der EU als verbindlich gelten.x

Wenn in den letzten Dekaden die Politik bewusst zugunsten einiger Branchen und Konzerne zu lange die Gefahren und Risiken der Klimaerwärmung kleingeredet hat, so war das nicht nur unfair gegenüber den Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten in Sicherheit wähnten - sondern auch für die vielen klein- und mittelständischen Unternehmen, denen nun ohne belastbare Planungssicherheit und verbindlichen Parametern (sprich: Regularien) die gewaltige Aufgabe der Transformation aufgebürdet werden soll, um den Klimawandel zu begegnen.

Die meist von Steuergeldern finanzierte Wissenschaft und die hieraus sich entwickelnden technologischen Erfindungen und Fortschritte sollten wieder mehr dem Allgemeinwohl und einer besseren Zukunft dienen - anstatt sich vollständig dem Profitinteresse einer ohnehin monetär überdimensional ausgestatteten Wirtschaftselite unterzuordnen.

Messen sollten Orientierung geben

Genauso sollten die Fach- und Leitmessen der Welt, die gern von den politischen Führern der Länder eröffnet und von den wirtschaftlichen Eliten in Verbänden und Messeausschüssen strategisch gesteuert und ausgerichtet werden, Leitlinien entwickeln. Aussteller sollte Branchenmessen in allen Wirtschaftssektoren einen dem Gemeinwohl nützlichen Charakter verleihen. Und Messen sollten die Produkte und Lösungen vorstellen, die nachhaltig und umwelt- sowie insgesamt naturverträglich sind, Stichwort: Refurbishing. Umwelt schädigende Produkt haben auf Messen nichts verloren.

Im Mittelpunkt der Messen sollten also Leitlinien, Ausstellungsgüter und Lösungen stehen, welche die Themenschnittmengen der jeweiligen Bedürfnisse von zukünftigen Gesellschaften auch tatsächlich abbilden. Produkte und Lösungen sollten also für die allgemeinen Interessen von Gesellschaften entwickelt werden - anstatt dass eine Consumer-getriebene Gesellschaft primär dem Profit-Interesse einzelner Unternehmen untergeordnet wird.

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Eine Orientierung mag z.B. die erfolgreich absolvierte neue IAA der Messe München sein, die nicht wie bisher nur Autos, sondern die gesamte mobile Welt der Zukunft zeigte und so auch viele grüne Alternativen und Ideen präsentieren und kommunizieren konnte. Damit einhergehend sollte bei allen Geschäftsmodellen wieder ein nachhaltiger Kundenservice ins Zentrum gerückt werden, der auch dem Klima guttut - und der gerade im Zuge des Online-Business gewaltig gelitten hat.

Im Zeitalter der Klimakrise und des größten Artensterbens seit dem Verschwinden der Dinosaurier sollten gerade die Messen mit ihren Ausstellern jetzt aufzeigen, wieviel die von Politikern diese Tage vielmals zitierte deutsche Ingenieurskunst tatsächlich mit Lösungen gegen die Klimaüberhitzung und Umweltzerstörung Beiträge leisten kann. Denn Messen zeigen Zukunft - und diese ist grün und klimafreundlich.

Deutschland galt bislang als größter und wichtigster Messestandort weltweit. Die großen deutschen Messegesellschaften befinden sich in öffentlicher Hand - wäre es da nicht naheliegend, zuvorderst genau diese grüne Zukunft zu zeigen - zumal die EU die aufgrund der Coronakrise bereitgestellten 700 Milliarden Euro Investitionsgelder zum Wiederaufbau der Wirtschaft in den europäischen Ländern während und nach Corona an die Klima- und Umweltverträglichkeit gekoppelt sehen möchte?

Die durch die Transformation von Digitalisierung und zur Erreichung von Klimaneutralität hin vielfältigen komplexen Veränderungen in der gesamten Gesellschaft sowie viele neue klima- und umweltgerechte Geschäftsmodelle und neue Kundenstrukturen machen Face-to Face-Marktplatze mehr denn je unabdingbar. Die Bedeutung der Messewirtschaft für neue Technologien, die der Klimakrise entgegenwirken, kann hier nicht hoch genug bewertet werden - geht es doch darum, den zeitlich-verdichteten gewaltigen Wandel dieses Jahrzehnts in eine klimaverträgliche Welt auch ökonomisch mit Unternehmen und Geschäftspartnern auch tatsächlich schnellstens konkret umzusetzen.

Persönliche Treffen unabdingbar

Dazu gehört nicht nur Wissenstransfer, sondern auch viel Überzeugungsarbeit - eine vielfältige und persönliche Klein-bei-Klein-Kommunikationsleistung in der gesamten Geschäftswelt - das nämlich ist die Kernkompetenz und Kernleistung von Messen. Hört man Stimmen aus der Branche, so haben darüber hinaus Außendienstmitarbeiter so gute Erfahrungen mit visualisierten Online-Meetings gemacht, dass zumindest bei Lieferanten die Reisen zum Kunden und Einzelhandel hin bis zu geschätzt 80 Prozent zukünftig entfallen werden - das ist gut für die Umwelt.

Dieser Umstand jedoch kommt wiederum den Fach- und Leitmessen zugute. Denn kein Unternehmen möchte den persönlichen Kontakt gänzlich abreißen lassen und seine Kunden an den Kosmos des Internets verlieren. Ein oder zwei Mal im Jahr möchte man sich persönlich sehen und das kommende Geschäftsjahr besprechen. Dabei gibt es keine kostengünstigere und zeitsparendere Möglichkeit, in so kurzer Zeit so viele persönliche Gespräche zu führen wie auf den Leit- und Fachmessen der Branchen. Die Leute wollen sich endlich wieder treffen - es gibt viel zu besprechen.

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